Die verzauberte Prinzessin

[250] Für Wilhelm L. Grüner


»Ich habe drei Töchter«, sagte der alte König und strich sich den Bart. »Die älteste ist an den Residenten von Mediterranien verheiratet, und es ist eine gute Partie. Die zweite hat ein Modeatelier in Wien – ein Schandfleck auf dem ansonst reinen Schild meines Hauses – sie verdient siebzigtausend Kronen jährlich. Aber die dritte, die dritte ist etwas ganz Feines – das ist eine verzauberte Prinzessin!« –

Das war sie, und der alte König war nicht zu unrecht stolz, obgleich er sie nur als ganz kleines Kind lebendig gesehen hatte. Dann war sie von der Fee Aurelie Zuckertort verzaubert worden – es war nichts zu machen gewesen – ein alter Hofprophet hatte das einmal bei einer Lage guten Pomeranzenschnapses in der allgemeinen Heiterkeit der Stunde geweissagt – und da mußte es nun schon so geschehen.

Sie lag verzaubert im Grünen . . . das war alles, was man offiziell von ihr wußte. Wo und wie? – Ja, es war keiner zurückgekommen, der es etwa berichtet hätte.


Der Prinz ließ sich melden. »Sehr wohl, Hoheit!« sagte der perücken-bepuderte Galadiener und verschwand hinter einer Damastportiere. Der Herr Oberzeremonienmeister ließe bitten.

Der Herr Oberzeremonienmeister saß an seinem Schreibtisch und erwiderte den wunderbaren Bückling des jungen Prinzen mit knappem Nicken. Dann räusperte er sich kurz. »Sie wollen die Prinzessin erlösen, junger Mann!« ließ er sich vernehmen. »Ich warne Sie vor Ihrem aberwitzigen Vorhaben. Denken Sie an Ihren alten, unglücklichen Vater, auf dessen silbergrauen Scheitel Sie Trauer und Schmerz zu träufeln im Begriffe sind . . . « – »Ich habe keinen Vater mehr –« warf der Prinz schüchtern ein. » . . . im Begriffe sind«, wiederholte der Alte streng. »Auf Ihrem Platz saßen Hunderte von hoffnungsvollen jungen Leuten, die sich desselben unterfingen wie Sie. Wahrlich, ich sage Ihnen, lassen Sie ab! – Hier sind die gedruckten Bestimmungen über die Erlösung der Prinzessin; die Gebühren wollen Sie bitte unten im Sekretariat entrichten. Gehaben Sie sich wohl!« – Und schon wollte sich der Prinz fassungslos entfernen, als der Blick des Alten wie zufällig auf die Visitenkarte fiel, die vor ihm lag.»Prinz Lu der XXVIII.?« sagte er. »Sind Sie nicht – – Haben Sie nicht in Jena studiert?« – »Ich war so frei«, sagte der junge Prinz, »Nun, nun«, begütigte der Alte, »das ist weiter keine Schande, es kann jedem passieren. Aber da kenne ich ja Ihren Herrn Oheim, den Edlen Jakob Nepomuk zu Gandersheim, ists nicht so?« – Der Prinz errötete. »Allerdings, Exzellenz. Der Edle ist mein Onkel. Ich verdanke ihm vom fünfzehnten bis zum[250] ersten jeden Monats mein Leben!« – »Aber da heiße ich Sie herzlichst willkommen!« sagte der Oberzeremonienmeister und ergriff des Jünglings Hände. »Mein lieber, junger Freund – – Eine Zigarre angenehm? Oder – das junge Volk pafft ja heutzutage lieber Zigaretten – bitte, bitte!« –

Protektion ist eine Hauptstütze der Welt. Und so kam es, daß der junge Prinz Lu XXVIII., versehen mit allen Ausweispapieren, der Gebührenquittung und der Eintrittskarte zum Zaubergarten, bei seiner Ausfahrt etwas wußte, was keiner seiner Vorgänger gewußt hatte.


Bis Andalusia-Neustadt hatte ihn das Zügelchen schnaufend gebracht. Da hörte die Strecke auf, und der Prinz stieg aus. »Träger!« sagte er – und seine Stimme kippte um. Wau-wau – machten die Dorfköter auf der staubigen Chaussee – von einem Träger war nichts zu sehen. Ärgerlich warf der Prinz seine Reisedecke über die Schulter, nahm das Köfferchen in die Hand und marschierte ab.

Das mußte man sagen: organisiert war das Ganze ausgezeichnet. Es ging verschlungene Pfade durch kleine Wäldchen und Wiesen, über sonnige Hügelhänge hinab am Bach entlang – aber immer, wenn man nicht weiter wußte, stand da eine Tafel ›Zum Zaubergarten‹ und dahinter eine Hand mit einem Ring auf dem kleinen Finger, einer prächtigen Manschette und der Kilometerzahl. Die Sonne brütete und stach heiß. Der Prinz stand und trocknete sich mit einem seidenen Tuch die Stirn. »Ach, entschuldigen Sie«, sagte es in der Luft, »Sie wollen gewiß die Prinzessin erlösen, wie?« – Überrascht wandte sich der Prinz um. Aber da war niemand. Er sah um sich. »Ich würde Ihnen gerne den Weg zeigen«, sprach die Stimme weiter. »Sie können sich meiner Führung unbesorgt anvertrauen. Ich bin der unsichtbare Hinkeldey. Johann Caspar Hinkeldey. Lassen Sie einem armen unglücklichen Mann auch etwas zukommen. Kaiserliche Hoheit!« – »Ich bin kein Kaiser«, sagte der junge Prinz. »Dann werden Sie es mal!« tröstete der Unsichtbare. »Und nun – darf ich bitten –« Und weil Herr Hinkeldey offenbar stark den geistigen Getränken zugesprochen hatte, gelang es ihm, den Prinzen durch seinen sanften Spirituosengeruch und lautes Schlucksen an den Wegtafeln vorbei, weiter und immer weiter zu führen. Idyllisch und lieblich lag die Landschaft da – der Prinz wollte sich gerade ins Schwärmen verlieren – da gemahnte ihn ein lauter Schluckser zu seiner Rechten, daß er ins Tal einzubiegen hatte. Er bog ein.

Da unten lag das Tor, ein großes Tor – und plötzlich hörte das Glucksen an seiner Seite auf. »Kaiserliche Hoheit belieben am Eingang zu stehen!« sagte die Stimme. »Ich erlaube mir, Kaiserlicher Hoheit alles Gute und das volle Gelingen – hick – eines so glorreichen Planes zu wünschen! Meine Aufgabe wäre damit erfüllt.« Ein stilles Warten lag in der Luft. »Schon gut«, sagte der Prinz und zog die Börse. Und[251] da machte der unsichtbare Herr Hinkeldey sein Kunststück, das große Kunststück, das ihm schon oft Ruhm und Ehre verschafft hatte. »Hoheit«, sagte Herr Hinkeldey, »Kaiserliche Hoheit sind zu gütig!« – Und plötzlich tauchte vor dem Prinzen eine riesige ungefüge Hand auf, eine klotzige, knotige Tatze, rot, mit starken, dicken Fingern, Die Hand war offen und leicht gekrümmt. Der Prinz tat ein Silberstück hinein. Eilig verschwand die Hand. Herr Hinkeldey wohl auch, denn es schluckste nicht mehr. Der Prinz schritt fürbaß.

In der Tat, da war die Pforte. ›Eingang zum Zaubergarten‹ stand auf einer Tafel. Und: ›Unbefugten ist der Eintritt streng verboten.‹ Befugt war der Prinz, die Eintrittskarte hatte er – also hinein. Ein würdiger Beamter in brauner Tuchuniform mit Perlmutterknöpfen knipste seinen Ausweis. »Zur Garderobe gleich rechts um die Ecke«, sagte er gemessen. Etwas vertattert – er hatte sich das Entree wesentlich anders gedacht – befolgte der Prinz die Weisung. Da stand Frau Gubalke, die Garderobenfrau, und half dem Prinzen aus dem leichten Staubmantel, zutraulich schwatzend. »Hat er Ihnen auch belästigt, der Anton, ja?« fragte sie. Der Prinz konnte es nicht leugnen. »So ein versoffener Kerl, so ein Liederjan – –« ereiferte sich die Gubalke. »All und jeden kriegt er aber auch an – und gnä Herr haben ihm gewiß ein Trinkgeld in den Rachen geworfen, dem ollen Saufigel – –« Der Prinz sagte, er hätte es ihm in die Hand gegeben. »Ja, das mit der Hand«, sagte die Garderobiere, »das ist auch das einzigste, was er kann. Und dabei hat er gar keine Konzession! Aber er soll sich nur in acht nehmen! Mein Schwager, der Feldgendarm, ist ihm schon lange auf der Spur! So die Leute aufzunehmen! Nein, aber so was! – Gott, nein – –!« Und beruhigte sich nicht eher über den entmenschten Hinkeldey, bis sie gleichfalls das Ihre weg hatte und der Prinz hinausging. Selig knicksend gab sie ihm das Geleit. –

Der Prinz musterte seine Karte. Ja – das war der Situationsplan – er sah sich um – es stimmte. Da lag der Garderobenpavillon, da war der Zaun, da hinten der Zauberberg, und da gähnte die Öffnung des Spiegellabyrinths. »Fauler Zauber«, dachte der Prinz, aber er ging doch hinein. So faul war der Zauber gar nicht. Es war ein ganz solides Irrwerk, mit vielen Spiegeln, auch ein erfahrener Panoptikumsbesucher hätte sich nicht so ohne weiteres zurechtgefunden. Der Prinz hatte nicht umsonst seine zehn Semester Jus weg . . . Verächtlich stieß er mit dem Fuß an die Butterbrotpapiere, die die Prinzen, seine Vorgänger, achtlos beiseite geworfen hatten. Sie waren sein Ariadnefaden – keinmal rannte er gegen die blanken Spiegel; in einer kleinen halben Stunde war er hinaus. Innen hatten die rötlichgelben elektrischen Birnen gestrahlt – bläßlich blau flimmerte der Frühlingshimmel ihn an. Was nun –? Es war niemand da. Mechanisch wandelte er einen ausgetretenen Fußpfad hinunter, in eine tiefe Schlucht.

[252] Durch die Felsen tobte der Wildbach. Menschenleer lag alles. »Hallo!« rief der Prinz. »Hallo!« sagte ein Echo. »Ist hier jemand?« rief der Prinz. »Quelqu'un – quelqu'un – quelqu'un –?« sagte das Echo siebenmal. Überrascht schwieg der Prinz. »Ist hier jemand?« fragte er noch einmal. »Quidam? – quidam? – quidam –?« sagte es. Die Wasser gurgelten. »Komm her!« sagte er laut. »Go on – on – on –!« hallte es. »Welch ein kosmopolitischer Spuk«, dachte der Prinz. »Wer bist du?« schrie er. Er hörte etwas Unverständliches – wahrscheinlich war es Kisuaheli . . . »Gib Antwort!« sagte er noch einmal. Das Echo schwieg – vielleicht waren ihm die Dialekte ausgegangen. Dann sagte eine tiefe Stimme aus den Felsen heraus: »Ich bin Polyglott Kuntze und kann mir das leisten!« – »Aha!« sagte der Prinz und ging froh und unbehelligt seines Weges.

Die Schlucht öffnete sich, er trat hinaus und stapfte durch die sandige Heide, die da vor ihm lag. Rötlichviolett schimmerte die Erika – Jetzt im Frühsommer? dachte der Prinz. Welch ein Land – –

Ein Schlagbaum sperrte den Weg. Der Chausseewärter kam, ein magerer, mürrischer Gesell, mit riesigen Haarsträhnen, »Seid mir gegrüßt, Wanderer!« sagte er feierlich. »Mitnichten zeuchst du von hinnen, ohne das Rätsel der heiligen Sphinx gelöst zu haben. Sage mir, was ist dieses: es hat sieben Beine, hängt an der Wand, und man kann sich die Finger daran abtrocknen . . . « – »Mach keinen Zimt, Anton!« sagte der Prinz, »und laß mich durch! Sonst rufe ich deine Frau – aber rasch!« – Entgeistert starrte der Wächter den Prinzen an. – – »Woher weißt du – –?« sagte er. »Mach die Barriere auf, Anton«, sagte der Prinz gutmütig. »Es ist besser so!« – Und Anton machte die Barriere auf und ließ den Prinzen hindurchgehen. Und starrte ihm, noch immer offenen Mundes, nach, als er ruhig weiterschritt. – »Das ist entweder der Gottseibeiuns oder der Auserwählte! Aber er hat mir kein Trinkgeld gegeben, also wird es wohl der Auserwählte gewesen sein! Gott sei der armen Prinzessin gnädig! So ein Draufgänger!« Und schloß kopfschüttelnd den buntangemalten Schlagbaum . . .

Der Prinz wußte, das war der Zerberus von Chausseewärter gewesen, an dem die meisten seiner Vorgänger gescheitert waren. Den hatte er hinter sich. Aber nun weiter, weiter . . .

Er ging und ging, und überstand den Spiegelberg und das Brennnesselgitter und den Gott der behördlichen Geschäftszimmer, der immer quengelte und auf die Frage: »Was machst du?« mit hohler Stimme antwortete: »Schwierigkeiten!« – und da – –

Da lag das Schloß, das verzauberte Schloß, da lag es, und seine grauen Schieferdächer funkelten in der roten, untergehenden Sonne. Er näherte sich.

Unten stand der Portier. Ihn zierte ein gewaltiger Vollbart. »Ach,[253] verzeihen Sie«, sagte der Prinz, »darf ich vielleicht die Prinzessin erlösen?« – »Heute wird hier nicht erlöst«, sagte der Türhüter hoheitsvoll, »Da kommen Sie nur Mittwoch wieder, Mittwoch oder Sonnabend von vier bis fünf! Heute ist Dienstag.« – »Ja, das ist aber unangenehm«, sagte der Prinz. »Könnte man nicht vielleicht – eine Ausnahme machen?« – Der Portier sah ihn von oben bis unten an. »Da kann jeder kommen«, sagte er grob. »Und wer sind Sie überhaupt?« – Der Prinz flüsterte einen Namen und noch einen und ließ dabei sechs stattliche Zigarren in die Hand des Bärtigen gleiten. Der Portier verbeugte sich. – »Sehr wohl, Hoheit! Belieben Hoheit zu passieren!« Er passierte.


– »Weißt du was?« sagte der Drache zu der jungen Prinzessin, »du könntest mir eigentlich etwas Kamillentee kochen – ich friere entsetzlich.« In der Tat hatte das Untier einen großen weißen Prießnitzumschlag um den Hals getan – seine Leibzwerge hatten zwei Vormittage daran gewickelt –, auch hustete es grauenvoll tief aus dem Halse. Es lag jetzt, unruhig mit dem gewaltigen Schuppenschwanz die Erde schlagend, auf dem Boden der ›Höhle‹, wie es sein Arbeits- und Schlafzimmer nannte. Drachen wohnen immer in Höhlen. Er war ein gebildeter Drache, er las H. St. Chamberlain und war seitdem etwas wirr im Kopf, aber sonst ein stattlicher alter Herr. Sein Lesetischchen mit der Brille stand vor seiner Bibliothek. Band reihte sich da an Band: die Marlitt und die Eschstruth, der Scheler und der Sombart; die ›Gartenlaube‹, das ›Daheim‹ und die ›Zukunft‹ schillerten in allen Farben. Es war ein fleißiger Drache: er bewachte nicht nur vertragsmäßig die Prinzessin, sondern er bildete sich fort und fort und trieb in den Pausen zwischen Bildung und Bewachung Zimmergymnastik. Jetzt aber war er krank und hustete.

»Clotilde«, sagte er und stieß die Panzerplatten seines Fells aneinander, daß sie rasselten, »den Tee!«

»Gleich, Onkelchen, gleich!« sagte die Prinzessin und schritt zum Samowar, »Liebst du ihn stark oder milde?« – »Stark!« sagte der fürchterliche Drache. »Stark, Clotilde!« und der Samowar summte.


Der Prinz schritt durch die Gemächer und die Korridore. Seltsame Gruppen standen da überall, Wachsfiguren gleich, in den Gängen und in den Fensternischen. Verzaubert, verzaubert . . . so, als habe sie mitten in ihrer Tätigkeit der Schlag ereilt, und bewegungslos harrten sie nun in der Attitüde, die sie damals innegehabt hatten. Da stand ein Schleichhändler mit aufwärts gedrehten Handflächen vor einem kühl abwehrenden Höfling, und zwischen ihnen lag ein Paket Butter; drei nicht mehr ganz junge Hofdamen entrüsteten sich sichtlich über einen Skandal, ein Hündchen stand am Kleidsaume der ältesten und hob ein[254] Bein, aber keine merkte es; zwei Generale beugten sich über eine Landkarte, auf der ganz Frankreich schwarz-weiß-rot angestrichen war, und da annektierten sie in alle Ewigkeit; ein vortragender Rat hatte sich kerzengerade aufgerichtet, weil er seinen Dreispitz vom Haken nehmen wollte, und so stand er nun in dieser für einen Rat ziemlich unnatürlichen Haltung da, ein Greuel anzuschauen; und in einer Ecke war ein Lakai gerade damit beschäftigt, einem Kammerkätzchen etwas Wichtiges mitzuteilen – der Prinz sah schämig weg. Und so kam er wirklich an die Tür des Prinzessingemaches. Er öffnete leise.


Der Drache schlief. Schwer rasselnd entstiegen seinem erkälteten Halse tiefgeröchelte Schnarchtöne, von oben bis unten war er mit weißen Federkissen bepackt, so daß man nur den spitzen Kopf hervorgucken sah. Auf dem Kopf saß eine weiße Zipfelmütze mit Bommeln dran, und acht beblümte Pantoffeln wärmten seine acht alten Beine. Malerisch hatten sich die Zwerge um ihn gelagert, Putten gleich an einem ordentlichen Schillerdenkmal. Die Prinzessin sah von ihrer Handarbeit auf.

»Himmel, ein fremder Mann!« kreischte sie. »Emil hat wohl den Verstand verloren!« (Emil war der Portier.) Und einen Schrei ausstoßend, so schrill und doch so süß-melodisch, daß der Prinz fühlte: die oder keine – sank sie hintenüber auf ein zu diesem Zweck aufgestelltes Rosenbett, von Rosen überwuchert, von Rosen bewacht, von Rosen bedeckt. Und lag und schlief.

Aber nicht ohne vorher auf ein Knöpfchen gedrückt zu haben, und einem unsichtbaren Grammophon entstiegen – ein wenig verkratzt – diese Töne:

Ich liege hier und schlafe.

Der Mond treibt seine Schafe

wohl über alle Wolken hin –

Weil ich verzaubert bin . . .

Ein Orchester bestätigte diese sonderbaren Tatsachen . . .

Der Prinz lächelte. Der Drache schnaufte. Die Zwerge hielten den Atem an.

»Also in dieser Situation hat Sie wohl noch keiner getroffen!« sagte der Prinz. »Und das ist der Herr, der all meine Vorgänger aufgefressen hat? Charmant. Nun – ans Werk!« Und zu der holden Schläferin gewendet:

»Gnädige Frau!« – Nichts. »Gnädige Frau . . . hören Sie . . . ?« – Gar nichts. »Man trägt jetzt«, sagte der Prinz wie im Selbstgespräch, »Hüte in der Residenz, Hüte – –! Eine tonangebende Firma in Wien, die dem königlichen Hause nahesteht, hat sie entworfen: sie haben Schutenform, und oben, auf einem luftigen Gebäude von Anmut, Schmelz und weißer Gaze nicken zwei feuerrote Paradiesreiher – die Herzen aller stehen still, die sie sehen. Aber sie kosten viel Geld, nicht[255] einmal die Gattin des Patronentaschenfabrikanten Christeinicke hat solch einen Hut – – Ich, ich würde meiner Frau – ich glaube, ich würde meiner Frau einen solchen Hut schenken!« Klang von der Rosenlaube her das Atmen rascher? Es konnte eine Täuschung gewesen sein . . .


»Und was das hier für Moden sind!« fuhr der Prinz leise fort. »Welch liebreizende Erscheinung, aber wie erstaunlich unmodern angezogen! Man ist hier offenbar etwas zurückgeblieben, wie ich merke . . . Hier habe ich zufällig die Abbildungen der neuen Residenzhüte und Modenbilder . . . «

Da schlug die Prinzessin die Augen auf.

»Ich fahre heute in die Residenz zurück«, sagte der Prinz.

Da erhob sich die Prinzessin von ihrem Lager. Der Prinz tat, als sähe er sie gar nicht, und blätterte in dem Modenalbum. Sie näherte sich und sah ihm über die Schulter. Und eine Stimme flüsterte: »Dieses Crêpe-de-chine-Kleid! Ich fühle mich wie erlöst!«

Und da umarmte der Prinz die verzauberte Prinzessin.


»Ja«, sagte der Drache, frei von allen Kissen und geschmückt mit dem St. Georgsorden, »da hätten wir nun alles Geschäftliche erledigt. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?« – Der Prinz bejahte dankend. »Ich bekäme also«, rekapitulierte der Drache und nahm seine Brille ab, »zweihunderttausend Mark Abstandsgeld, einen neuen Kasten Drachengift, einen Reserveschwanz und meine Leibputten.« – »Gewiß«, sagte der Prinz. »Und wohin gedenken Sie sich nunmehr zu begeben?« – »Ich werde jetzt«, sagte der Drache, »erst ein paar Monate an die See gehen, und dann nehme ich wahrscheinlich eine Stelle als Personalchef im preußischen Ministerium des Innern an!« – »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute!« – »Ich danke«, sagte der Drache und zog sich diskret zurück.


Selig und enganeinandergeschmiegt aber schritt das Brautpaar durch die Gänge des Schlosses. Alles Leben war erwacht: der Schleichhändler drehte dem Höfling die Butter an, um die ihn der vor so langen Jahren gebeten hatte, die drei alten Hoftanten disputierten noch eifriger als damals an ihrem kleinen, privaten Skandal, das Hündchen tat seines, und die Generale annektierten, der vortragende Rat krümmte sich wieder in der ihm angemessenen Haltung, und das Liebespaar in der Ecke war so beschäftigt, daß es nichts sah und nichts hörte und sicherlich bald entlassen werden mußte . . .

»Apropos«, sagte der Prinz. »Sind Sie . . . bist du eigentlich schon sexuell aufgeklärt?« – »Kind«, sagte die Prinzessin und schlug ihm leicht mit dem Fächer auf den Arm. »So verzaubert war ich denn doch nicht –!«[256]

Und sie schritten hinaus, an dem tiefgrüßenden Portier vorbei, durch die Täler und Schluchten und das Labyrinth, vorbei an der Garderobefrau Gubalke und an Hinkeldey dem Unsichtbaren, und fuhren mit der Kleinbahn in die Hauptstadt des Reiches, wo sie mit Pauken und Drommetenschall begrüßt wurden.

Die Hochzeit fand statt, mit vielem Gepränge, und alle waren sehr glücklich.

Und in einem unbewachten Augenblick zog der Oberzeremonienmeister den Prinzen beiseite und fragte: »Na?« – »Sehr nett«, sagte der Prinz, »sehr nett und gar nicht verschlafen!« –

Die Böller krachten, die Einwohner des Landes jubelten – Einwohner jubeln immer – die Putzmacherinnen konnten gar nicht genug Schutenhüte herstellen, wie die Frau Prinzessin einen trug, der Nachthimmel erglänzte weit und weiß von den Feuerwerksrädern und den zischenden Raketen. »Ah!« sagten die Leute. Und der Prinz und die Prinzessin fuhren in der goldenen Brautkutsche über die donnernde Hängebrücke hinaus in das frühsommerliche, nächtliche Land . . .

Und wenn sie nicht Idealisten geworden sind, wie Jaurès und Kurt Eisner, dann leben sie noch heute.


  • · Peter Panter
    Aus: Träumereien an preußischen Kaminen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 250-257.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon