Dr. Caligari

[292] Seit Jahren, seit den großen Wegener-Filmen, habe ich nicht so aufmerksam im Kino gesessen wie beim ›Kabinett des Dr. Caligari‹.

Dieser Film, verfaßt von Carl Mayer und Hans Janowitz, inszeniert von Robert Wiene mit Hilfe der Maler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig, ist etwas ganz Neues. Der Film spielt – endlich! endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt, und hier ist ohne Rest gelöst, was seinerzeit bei der Inszenierung der ›Wupper‹ im Deutschen Theater erstrebt wurde und nicht ganz erreicht werden konnte. Wenn man nun noch die Schauspieler in weniger reale Kostüme steckte – wo gibt es in diesen schiefen, verqueren, hingehauenen Häusern solche soliden Kragen? –: dann wäre alles gut. (Fast alles: Herr Fehér ist es nicht, weil er sich, wie seine Partnerinnen, grade so bewegt, als ob er in einem schlechten Porten-Film mitwirkte.)

Aber nun laßt mich loben. Ein Wahnsinniger erzählt einem Kollegen der gleichen Fakultät sein Schicksal. Das Ganze unheimlich aufgebaut, verwischt, aber nicht ganz vom Räsonnement befreit. Fast jedes Bild ist gelungen: namentlich jene kleine Stadt auf dem Berge (alle Szenerien sind gemalt, nichts spielt vor wirklichen Dingen), ein Platz mit Karussells, merkwürdige Zimmer, entzückend stilisierte Amtsräume, in denen Hoffmannsche Beamte auf spitzen Stühlen sitzen und regieren. Verzwackt die Gebärden, verzwickt Licht und Schattenspiel an den Wänden . . .

Die Fabel vom Mißbrauch des Somnambulen eben nicht neu – aber höchst einprägsam gemacht. Manche Bilder haften: der Mörder in seiner hohen Zelle, Straßen mit laufenden Leuten, eine dunkle Gasse – man muß an Wunder glauben, um das gestalten zu können. Und die Mimen?

Werner Krauß wie aus einer Hoffmannschen Erzählung herausgeschnitten, er ist wie ein dicker Kobold aus einem deutschen Märchen, ein Bürgerteufel, eine seltsame Mischung von Realistik, und Phantasie. Besonders bei ihm ist zu spüren: niemand geht durch solche Gassen, weil es sie nicht gibt – ginge aber einer, dann könnte er nur so gehen wie dieser unheimliche Kerl. (Goethe nannte das einmal die solide Mache in der Phantastik.) Veidt stelzt dünn und nicht von dieser Erde durch seine wirre Welt: einmal ein herrlicher Augenaufschlag,[292] einmal wie von Kubin, schwarz und schattenhaft und ganz lang an einer Mauer hingespensternd.

Ein Mord wird sichtbar – als Schattenspiel an einer grauen Wand. Und zeigt wieder, wie das Geahnte schrecklicher ist als alles Gezeigte. Mit unserer Phantasie kann kein Kino mit. Und daß in diesem Film, von einer geraubten Frau, ein Schrei ertönt, den man hört, wirklich hört (wenn man Ohren hat) – das soll ihm unvergessen sein.

Das Publikum schwankte zwischen Heiterkeit und Unverständnis: der Berliner hat, wenn er sich grault, einen Lacher zur Verfügung, der durch die Nase geblasen wird, das ist höchst effektvoll. Ein Provinzgeschäft ist es nicht, und ich fürchte, nicht einmal ein berliner Geschäft.

Aber – die größte von allen Seltenheiten –: ein guter Film. Mehr solcher!


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 11.03.1920, Nr. 11, S. 347.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 292-293.
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