Hexenprozesse in alter und neuer Zeit

[412] Es gibt ein dickes zweibändiges Werk von Soldan-Heppe ›Geschichte der Hexenprozesse‹. (Neu herausgegeben von Max Bauer, Georg Müller, München.) Mit Druckerschwärze gedruckt. Mit Blut geschrieben.

Es gab größere Roheiten, aber es gab wohl kaum auf der Welt eine kältere Grausamkeit als in diesen alten Protokollen der Hexenprozesse: »Wird gebunden, winselt: könn es nicht sagen, soll ich lügen? Oh weh, oh weh liebe Herren! Bleibt auf der Verstockung. Der Stiefel wird angetan und etwas zugeschraubt. Schreit: Soll ich denn lügen, mein Gewissen beschweren, kann hernach nimmer recht beten! Wird weiter zugeschraubt, heult jämmerlich.« Und dies war eine Frau, die im Jahre 1662 in Eßlingen auf der Folter lag.

[412] Ihr wißt doch wies war: Auf der schmalen Grundlage der wirklichen Existenz von hysterischen Frauen und neurasthenischen Männern, auf der Grundlage, daß es Religionsreformatoren gab, die das heilige Dogma und die heilige Kasse Roms störten, baute sich der Glaube an die Hexen in Europa auf. Was im Leben verquer gehen mochte: die Hexen waren daran schuld. Und bei einem solchen Hexenprozeß kam mancher mit mancherlei auf seine Kosten. Die Wichtigmacherei von Ämtern, die Betonung des kirchlichen Machtstandpunktes, Denunziationssucht, persönliche Feindschaften und die Raserei eines Blutrausches, der die Gehirne völlig umnebelt hielt.

Denn nicht das war das Furchtbare, daß es dergleichen gab, sondern daß keiner – Richter nicht und Zuschauer nicht – das Entsetzliche empfanden, wenn ein zerfolterter Stumpf im dicken Turm in Schweiß, Blut und Dreck sich die letzten Schreie abpreßte. Es ist ja nicht wahr, wenn heute der liberale Geschichtsschreiber entschuldigend hinzufügt, die Richter dieser Zeit seien eben im Wahn ihrer Epoche befangen gewesen. Menschenleid ist zu allen Zeiten dasselbe gewesen, und wer es nicht gefühlt hat, wenn es ihm ans Herz klopfte, hatte das schlimmste Laster, das Weise, Religionsstifter und Ethiker kennen: die Trägheit des Herzens. Blinde wurden gefoltert, lallende Greise und kleine Kinder, mehr als einmal ist es vorgekommen, daß schwangeren Hexen auf dem Holzstoß das Kind aus dem Leibe sprang: und irgendein schwarztalariger Schuft saß dabei und blätterte gleichmütig in seinem ›Hexenhammer‹, wie das widerwärtigste und hinterhältigste Prozeßbuch aller Zeiten hieß. Das Urteil der Geschichte über die Hexenprozesse, die übrigens vorwiegend die katholische Kirche belasten, ist fertig. Aber die Knochen der Geschundenen, verscharrt oder verbrannt, sind dahin, und keine Sekunde Qual und kein Tropfen Todesschweiß kann durch dieses Urteil der Geschichte ausgelöscht werden. Die Peiniger hören es nicht mehr, zu ihren Lebzeiten waren es große Herren, und das Ganze wäre vergraben und vergessen – –.

Wenn wir heute nicht die Militärjustiz hätten.

Wenn nicht heute – seltsam umgekehrt, aber im Grunde gleichartig – dasselbe Schauspiel noch einmal aufstiege: gequälte und getötete Menschen und befriedigt grinsende Quäler.

Zu Beginn der großen Zeit haben wir Bücher, Broschüren und täglich zweimal die Presse über uns ergehen lassen müssen, die da predigten, so etwas Aufgeklärtes, Fortgeschrittenes, Wertvolles wie die Deutschen unsrer Zeit gäbe es überhaupt nicht mehr. Die deutschen Militärprozesse der Gegenwart sind umgekehrte Hexenprozesse.

Die Tatsache, daß ein politischer Gefangener, der das Unglück hat, in die Hände der Reichswehr zu fallen, vogelfrei und rechtlos geworden ist, bekümmert hierorts kein Gemüt. Ein sausendes Koppelschloß, kalte und verschmutzte Zellen, halb ausgehungerte Menschen,[413] die vor einem uniformierten Monokelmann zwecks Herstellung eines Geständnisses angebrüllt werden – hier ist reines Mittelalter. Denn das verstehen wir ja darunter: daß alle an den Zweckdenken, aber keiner an das Individuum, Die Pfaffen und ihre Richter im Mittelalter hätten schön getobt, wenn einer etwa ihre Mütter oder ihre Schwestern so zugerichtet hätte, wie sie es mit ihren Hexentaten. Nur wäre ihnen eben ein Vergleich gar nicht in den Sinn gekommen. Es waren ja nur Hexen . . .

Es sind ja nur Sozialisten . . . Kommt bei den modernen Militärgerichten noch der verderbliche politische Zweck hinzu, der doppelt verwerflich ist, weil man den Haß unter dem Paragraphen verbirgt, so verschiebt sich der Vergleich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zugunsten der alten Zeiten. So wie das Prozeß- und Exekutionsverfahren gegen die Hexen völlig einseitig war (der Untersuchungsrichter war letzten Endes überhaupt an keine Bestimmung gebunden), so dünkt dem deutschen Normalgehirn jedes Mittel gegen die Landesfeinde recht, die er neuerdings ›Bolschewisten‹ nennt. Das Wort ist neu. Der Begriff ist alt. Gemeint ist also ziemlich alles, was nicht deutschnational ist oder dem Zentrum angehört (selbst der große Haufe erzkonservativer Juden, die bei der Demokratie stehen, gelten dem deutschen Bürger als revolutionär).

Wo ist ein Unterschied zwischen dem Hexenprozeß in alter und neuer Zeit? Die von früher waren ehrlicher. Sie legten sich gar keine Scheu auf, sie taten auch nicht so als ob – sie zerquälten, vergewaltigten, zerschnitten und zerprügelten, was ihnen als verdächtig eingeliefert wurde. Wir sind vornehmer geworden, wir haben Paragraphen. Wir haben eine Justitia, die, mit Binde und Waage abgebildet, das Werk der Militärrichter krönt. Und die haben gute Nerven, weil sie ja die Qualen, die sie verhängen, oder deren Ausübung sie durch ihren Freispruch der Kameraden begünstigen, nicht mitanzusehen brauchen. »Ein Weib in Düren, das in wiederholter Pein standhaft leugnete, blieb, mit ungeheuren Beingewichten beschwert, an der Schnur hängen, während der Vogt zum Zechen ging; als er wiederkam, hatte der Tod die Arme von allen Qualen erlöst. Diesem Vogte fehlte indessen die Geistesstärke, mit der man sonst in solchen Fällen behauptete, daß der Teufel sein Opfer geholt habe; er wurde wahnsinnig.« Die marburger Richter werden ihren Verstand, soweit das Militär einen solchen duldet, behalten . . .

Die vollkommene Nichtachtung der Menschenleben kennzeichnet die Epoche des mittelalterlichen Blutrausches. Ganze Geschlechter durchtobten ihre Zeit, hypnotisiert von einer Idee: von der Idee des Hexenwahns. Sie sahen kein Blut und keine Schwären, keine aufgetriebenen Frauenleiber und keine zerbrochenen Beine – sie sahen nur die Idee. Unsere sehen keine marburger Arbeiterleichen, keinen[414] Hans Paasche, keinen Schottländer, keine Matrosen, keine Frauenleiche im Wasser – sie sehen nur ihre Idee. Die Idee der absoluten Herrschaft eines verblödenden und rohen Militarismus (jeder Mann sein eigener Feldwebel!) – die Idee Ludendorffs.

Die Gegner der Hexenprozesse wurden als Zauberer und Ketzer verschrien, exkommuniziert, verhaftet und verbrannt. Die Gegner der Militärjustiz werden als ›Bolschewisten‹ verschrien, verhaftet und ermordet.

Die Hexenprozesse haben aufgehört, als sich eine neue Erkenntnis in den Köpfen Bahn brach. Die Militärprozesse dieser Schandjustiz werden aufhören – –

Wann werden sie aufhören?


  • · Peter Panter
    Freiheit, 12.09.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 412-415.
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