Literatur-Walzer

[440] Wenn Mutter abends zu Bette geht

und Papa in den (blonden) Verein,

liest Lieschen noch bei der Kerze spät

von Ewers Schweinigelein.

Der Autor ersetzt einem anständigen Kind

das erotische A-B-C.

Ein Teufelsjäger! Er kitzelt so lind –

ein lebendiger Gaudemiché.

Er kam jetzt aus Amerika

mit einem neuen Band –

Was steht darin?

Was weht darin?

Die Weise ist bekannt . . .

Das hat kein Goethe g'schrieben, das hat ka Schiller dicht –

das is a Tantiemensadiste, der zu den Backfischen spricht!

Das is von ka Klassiehker – das is von kein Genie –

Und 's klingt doch, halten zu Gnaden, so voller Poesie –!


Der Kriegsgewinnler, der auf sich hält,

macht hin in die dicken Premieren.

Da sitzt die literarische Welt

Walter Hasenclever zu Ehren.

Und kürzer wird immer der Sätze Bau

und dunkler, o Herr, der Sinn . . .

»Wat hat er jesacht?« Man weiß nicht genau.

Da steckt Metaphysike drin!

Wenn dir nur der Artikel fehlt,

das andre machen schon

die Wallungen,

die Ballungen

– o ungeratener ›Sohn‹!

Das hat kein Goethe g'schrieben, ka junger Schiller dicht –

das is a lyrischer Reporter, der zu den Logen spricht!

Das is von ka Klassiehker – das is von kein Genie –

Und 's klingt doch, halten zu Gnaden, so voller Poesie –!


Und es schreiben Edschmid und Otto Ernst

(in jeder Beziehung Schmidt) –

Paß auf, mein Lieber, daß du was lernst,

und geh mit den Strömungen mit!

Auch du mußt dichten mehr als genug.

Üb dich beizeiten, mein Sohn![440]

Es kommt die Stunde, da schreibst du im Druck

deine Steuerdeklaration.

Verschieb, solang du schieben kannst,

gib nur ein Viertel an.

Dicht in Finanz

wie Müllers Hans –

und lächelnd summst du dann:

»Das hat kein Goethe g'schriebn – das hat ka Schiller dicht –

Das is a armer Preuße, der zum Finanzamt spricht.

Das is von ka Klassiehker – das is von an Genie!

Drum klingts auch – halten zu Gnaden – so voller Poesie –!«


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 18.11.1920, Nr. 47, S. 586.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 440-441.
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