Drei Abende

[91] Erst waren wir bei Adalbert, Max. Und haben schön über ihn gelacht – über seine gut erhaltene Schnoddrigkeit und über den unbeirrbaren Doofsinn, mit dem er, von einer schelmischen Freundin durch die Türspalte mit »Kuckuck« angerufen, zu seinem Kanaillenvogel: »Bist woll verrückt, wa?« flüsterte . . . Eine schauspielerische Leistung hatte er nicht zu bieten. Aber losgelöst von der Figur: der volle Max. Herrlich, wenn eine Drohung beginnt: »Sie! Ich bin ja ein stiller, einsamer Mensch – aber . . . !« Und dann zerplatzt er. Wahrscheinlich über das Stück, das die Autoren im Zorn erschaffen haben. Die Musik war von Leo Fall, aber leider nicht vorhanden. Weil wir grade vom heiligen Ambrosius sprechen: Links neben uns in der Loge saß ein deutscher Mann, der es dem ganzen Rang laut und deutlich erzählte, daß er grade in Paris gewesen. Und unglücklicherweise aßen – das kann vorkommen – rechts neben uns zwei jüngere Damen je einen Apfel. Es war gewiß nicht schön. Aber wie der Mann da von Paris schwärmte: »Gott sei Dank – man sieht doch mal wieder anständige Menschen!« (er meinte anständig angezogene); mit welchem Haß er seinen pomadisierten Scheitel auf alles herunterleuchten ließ, was nach der Vorstellung nicht ›groß ausgehen‹ würde; wie er –: dies ließ erkennen, daß der Untertan Heinrich Manns und Wilhelm Hohenzollerns noch munter am Leben ist. Und seine junge Dame sah mich so freundlich an . . . Und ich konnte nicht, weil ich doch nicht allein war . . . (Junge, frische Blondine wird von distinguiertem, stattlichem Herrn um Lebenszeichen gebeten. Ambrosius 218.)


Und dann ließen wir die ›Ehe im Kreise‹ über uns ergehen – und es war nicht zum Totlachen. Gewiß: Fräulein Marwenga ist immer sehr nett (obgleich sie sich in der vorigen Saison nach mehr anließ), und Eugen Rex macht mit alkoholisch aufgeweichten Konsonanten einen Betrunkenen, so zart, so lustig und so spaßig, daß er einen zur Aufmerksamkeit zwingt. Mein Freund Karlchen, der neben mir saß, sagte, so seien die Betrunkenen. Und das ist ein Sachverständiger. Und die Waldoff steckt noch ihre schiefe Nase in die Luft und klönt das hohe I mit derselben Verve wie je. Einmal erscheint sie als Globus, wippend[91] in ihrer planetarischen Schwangerschaft, und singt ein hübsches Couplet – das einzige des Abends! – in altem gutem Julius-Freund-Stil. Mit Künnecken aber ist das nichts: diese Industrialisierung seines Talents, wie sie sie da betreiben, bekommt ihm nicht. In den Musikkritiken figuriert er als »Hoffnung«. Schade – man hätte sich mehr gewünscht.


Und am dritten Abend – hier sollte ich eigentlich eine neue Seite anfangen. Der dritte Abend brachte mir den bisher stärksten Eindruck dieses Winters. Ludwig Hardt las Franz Kafka. Wer Ludwig Hardt ist, wissen die Leute zwar – ohne nun etwa scharenweise in Vortragsabende zu laufen, deren Programm sie bei andern dauernd postulieren. Seit fünfzehn Jahren keine Konzession – das ist viel. Und seit fünfzehn Jahren reife und volle Sprechkunst – das ist mehr. Diesmal unter herrlichen andern Dingen: Franz Kafka. Wer das ist, wissen leider noch viel zu wenige – ich habe einmal über seine ›Strafkolonie‹ referiert und will es nächstens über den ganzen Mann tun. Er ist ein Großsohn von Kleist – aber doch ganz selbständig. Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zur Zeit in deutscher Sprache geschaffen wird. Er blüht von Phantastischem und Phantasie – aber fest und sachlich sind Sätze und Rhythmus gestaltet. Nichts von der konventionellen Weichheit Prags, in welcher Stadt er wohnt – nichts von Modeströmung. Das ist auf einer andern Welt gewachsen.

Den las Ludwig Hardt – und las ihn so, daß der unterirdische Strom dieser Prosa, die unhörbaren Versfüße, die bis zur Schizophrenie gehenden Bilder sich leise und voll entfalteten . . .

Und vorher Matthias Claudius und eine kleine Geschichte von Daudet, in der er so prachtvoll und strahlend log, daß man gern einmal den ganzen Münchhausen von ihm vorgelesen haben möchte.

Er ist neben Karl Kraus der größte Vortragsmeister unsrer Sprache.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 01.12.1921, Nr. 48, S. 562.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 91-92.
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