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[288] Vor dem Denkmal der gottseligen Kaiserin Augusta, das marmorn und gradlinig in Berlin aufgerichtet ist, stand einmal ein alter Arbeiter. Der sah sich die Landesmutter lange an. Und dann sprach er: »Die sieht so eenjal aus!«
Das ist nun überhaupt nicht zu übersetzen. Darin liegt alles: die preußische Nüchternheit, die unpersönliche Pose und die Konstatierung, daß von solchen Kaiserinnen vierundzwanzig auf zwei Dutzend gingen. »Eenjal –« mit diesem Wort war der Fall erledigt.
Und dieses ein für alle Mal Erledigende liegt in dem (guten) berliner Witz. Liegt auch in der berliner Sprache, die nur sehr, sehr wenig Schriftsteller wirklich beherrschen. Arno Holz in den ›Sozialaristokraten‹ ist einer, der das bis zur Vollendung gekonnt hat. Es gibt noch einen, der das in Worten getroffen hat: Heinrich Zille in seinen von Herrn Brunner als unzüchtig bezeichneten Werken. Auch das ist tiefstes Berlin. Und noch einer ist Hans Hyan.
Mir liegt ›Auf dem Asphalt‹ vor (bei Josef Singer zu Leipzig in recht mäßiger Ausstattung erschienen). Das Bändchen enthält eine Reihe von Hyans besten Arbeiten. Das ist wirklich ein Stück Berlin.
Es kommt gar nicht auf den Inhalt an – der mag zum Teil veraltet sein oder mehr oder weniger gut erfunden. Das war dem Verfasser offenbar auch ganz gleich. Was ihm bis heute keiner nachgemacht hat, das ist die phonetische Erfassung der berliner Denkart, der berliner Seele.
Die Provinz schildert ja die berliner Kodderschnauze immer als viel zu rasch. Gewiß, das ist eine Art des berliner Witzes, diese rasch zugreifende Bemerkung, das ist auch eine. Aber das berlinische Andante – das hat doch Hyan gefaßt wie kein Zweiter. ›Schackerchen‹, eine der klassischen Figuren Hyans, beschwert sich beim Gefängnisdirektor über das Essen, Resümee: »Also, Herr Direktor, ick bedaure, aber unter sone Umstände kann ick ma hier nich inleben!« Diese Fluchtankündigung im Papierdeutsch, in langsamstem Tonfall[288] vorgetragen – das ist Berlin. Und wie sind alle diese Gespräche gefaßt – diese Luden, die sich ganz sachlich, fachlich, und ohne jede falsche Montmartre-Romantik über ihr Geschäft unterhalten! Nach einer häuslichen Auseinandersetzung: »Na, hast deine Spinde woll orntlich zujedeckt, wat?« – »Ja, woher weeßte denn det?« – »Ach, Weberklärchen kam vorhin rieba un hat et assehlt . . . Ihr sollt ja beinah mit de Decke durchjekomm sein . . . Wat sachtn die Mathilde, wenn de se so die Ojen zudrickst?« – »Wat soll se denn saren? . . . Dankescheen sacht se!« Das geht alles mit die Ruhe und sehr schön langsam, und von irgendeiner aufgepappten Poesie, wie man sie heute hie und da trägt, ist gar nichts zu merken. Wird die Szenerie lebhaft, dann flucht vielleicht eine Hure: »Der mach ickn Chignon lose!«, womit der falsche Zopf der Konkurrenz gemeint ist. Was aber die Geschichte ›Der Sohn‹ betrifft . . . Wie dieser junge Mann seine Frau Mutter vafeift, und wie er das seinem Freunde Maxe berichtet: das gehört zu dem Stärksten der neuberlinischen Literatur. Die Kriminalbeamten geben ihm – die Geschichte stammt aus dem Frieden – fünf Mark. »Ick sage nu, na wir kennten ja jleich ieban Hof durch det Flurfensta, wat enzwee is! Un richtig, die beiden Chochems, die krauchen ooch dadurch! Un fack, fack, wan se de Treppe ruff! Ick imma vornewech! Wie wa nu oben in de Vierte bei unsre Tire sind, kloppe ick und sage so recht weenerlich: ›Mutta! . . . Mutta! . . . Laß ma doch rin!‹ . . . Mit een Mal hör ick, wie se drin mit sone rechte jiftje Stimme sagt: ›Mach bloß, det de wechkommst, Aas! . . . Sonst schick ick da Vatan iban Hals, der wird da schon!‹ . . . Mit Vatan meent se nämlich den Klamottenkutscher, mit den se jetzt vakehrt! Ick jeh also ne halbe Treppe tiefa, im Falle, det a pletzlich rauskommt, un brülle wieda: ›Mutta! Mutta!‹ Mit een Mal jeht de Tire uff, und der Kerl, der Klamottenkutscha, arbeet raus wie son Varrickta!« Solcherlei Dinge begaben sich auf diesem Flur.
Das Beste aber, was Hyan überhaupt geschrieben hat, ist die letzte Skizze: ›In der Nacht davor‹. Sie ist viel weniger pathetisch als sein berühmtes Gedicht: ›Vadammt – nu sitz ick in det Loch een janzet Jahr‹; sie ist ganz anders. Nämlich einfach so, daß drei Sträflinge in der Zelle gegenüber alles anhören, was da bei dem in der letzten Nacht vor sich geht, und daß sie bei einer geschmuggelten Zigarre ihre Meinungen darüber austauschen. Man weiß nicht viel von dem Verurteilten, er wird auch nicht gezeigt. Einmal sagt einer: »Donnawetta, is doch 'n ekliches Sticke Arbeit, was der da vorhat!« Und wie dann die drei, bibbernd vor Kälte, mit nackten Beinen auf dem Steinfußboden, dicht aneinandergedrängt, an der Tür stehen und horchen, horchen, nur noch aus Ohr und Angst bestehen: das ist beste berlinische Realität. Und in dem Satz des einen ist alles über diese Nachtstunde enthalten, was darüber zu sagen ist: »Heert a, wie a[289] weint?« Wer solche Berliner kennt, weiß, wie weit es gediehen sein muß, bis sie so etwas sagen.
Das Buch ist, in Tragik und Humor, ein wirkliches Stück Berlin. Wer sich mit dieser Stadt beschäftigt, sollte es kaufen.