Vor acht Jahren

[241] Kosaken, Ulanen, Belgier, Franzosen, Serben, Engländer töteten einander. Erde saugt Blut auf, Eisen durchschlägt Fleisch, Häuser brennen, Frauen und Kinder weinen, und Minister, Diplomaten, Politiker, Journalisten fahren im Auto, liegen bei berühmten Schauspielerinnen, überfressen sich.

Henry Guilbeaux: ›Karl Liebknecht‹


Als ich heute vor acht Jahren die Kantstraße in Berlin hinunterging, rasten die Leute in patriotischer Besoffenheit. Sie rissen sich Extrablätter aus den Händen, gestikulierten wild, liefen hinter dunkelhäutigen Menschen her, die sie in ihrem Wahnwitz für Spione hielten, und erstarben in Ehrfurcht, wenn irgendeine Uniform monokelblitzend nahte. Vor einem Gemüsekramladen stand ein älterer Mann, neben ihm seine Frau und drei Kinder. Sie standen da, in einer Reihe und weinten. Wer aus Berlin stammt, wird verstehen, daß dieser Anblick wahrscheinlich zu jeder anderen Minute ein wenig komisch gewirkt hätte: in dem Augenblick war mir gar nicht zum Lachen. Die Straße stand auf dem Kopf – dieser eine wußte, was ihm bevorstand.

Die anderen schienen es nicht zu wissen. Wie sich das Land in jenen schandbaren Augusttagen 1914 benommen hat, kann man heute noch an der stolzen Befriedigung erkennen, mit der die Nationalisten von dem Hereinfall einer ganzen Nation sprechen. Sie nennen diese[241] Mischung von Presselügen und einer erzwungenen Wehrpflicht den ›Geist von 1914‹, und so sah er auch aus. Wir wollen heute ehrlich sein: bis tief in die Arbeiterschaft hinein hatte sich der Massen ein Rausch bemächtigt, den allerdings Schule und preußisches Militär ausgezeichnet vorbereitet hatten, der ›Berliner Lokalanzeiger‹ und die gesinnungsverwandten Papiere bescheinigten es jedem Herrn Piefke, daß er nunmehr ›Geschichte‹ erlebe, und daß es eine ›große Zeit‹ sei. Ja, das war sie – nur leider ein paar Nummern zu groß.

Ich bereitete damals als junger Student den Sohn eines adligen preußischen Generals mit sehr bekanntem Namen zum Einjährigen vor, und der junge Herr war leider so dämlich, daß es ihm Seine Majestät der Kaiser schließlich schenkte. An diesem Tage sah ich ihn wieder: da fuhr dieses uniformierte Stück Malheur in einem Automobil den Kurfürstendamm herunter, unbeschreiblich hindenburgisch auf einen großen Schlachtensäbel gestützt. In den kleinen dummen Äuglein lag ein Blitzen: »Das ist meine Zeit!«

Es war seine. Denn der Tanz, der nun auf den krummgeprügelten Rücken der Proletarier anhub, ließ jene trockenen Fußes durch das Rote Meer gehen, die ihr Maul gar nicht weit genug für das Sterben der anderen aufreißen konnten. Man weiß eigentlich heute nicht, was widerwärtiger war: das Benehmen des deutschen Offizierkorps im Kriege den eigenen Landsleuten gegenüber (die Reichswehr hat noch heute ›Traditionskompanien‹, damit das ja nicht vergessen wird!) oder die Haltung der Regierung. Wir wollen uns doch daran erinnern, daß diese Edlen noch in letzter Minute, als die Balken des Hauses vor dem Einsturz knisterten, den Arbeitermassen das allgemeine Wahlrecht verweigert hatten, denselben Massen, die draußen ihre Brust den feindlichen Geschossen, an denen so herrlich viel verdient wurde, hinhielten, denselben Arbeitern, die Posten schoben, durch Sümpfe und Lehmgräben kletterten, verlaust und verdreckt jahrelang fern von Heim und Haus, von Arbeit und Kindern aushalten mußten.

Dem geschulten Arbeiter ist heute klar, was dieser Krieg gewesen ist. Er war nicht etwa eine Naturnotwendigkeit, nicht das Aufeinanderprallen zweier Geistesrichtungen, nicht das ›Stahlbad‹ für die Seele eines Volkes. Er war etwas anderes.

Dieser Krieg war die natürliche Folge des kapitalistischen Weltsystems. Er hatte ferner seinen Ursprung in einer lächerlichen Überspannung der Staatsidee, jener Souveränität, die in einem ordentlichen Rechtsverfahren, wie wir es alle Tage erleben können, schon eine Schädigung seines Ansehens erblickte. Die Militärs, die ursprünglich Mittel gewesen waren und nun als Selbstzweck die Stunde regierten, hetzten ihrerseits, wo sie nur konnten. Der reisende Kommis, den ein Volk 25 Jahre lang auf dem Thron geduldet hatte, war aus Norwegen heruntergedampft gekommen und hatte seine unsterblichen[242] Randbemerkungen in die Akten geschmiert: »Blech, Quatsch! Verbrecherbande!« Seinen 6 Söhnen ging es gut. Die Nation war abkömmlich: kv.

Über die Seele des deutschen Soldaten im Felde wissen wir heute Bescheid. Diese stumpf gewordenen, gleichgültig dahintrottenden Menschen, die froh waren, den nächsten Tag zu erleben, hatten überhaupt keine Seele mehr: die hatten sie sich ausmarschiert, und die hatte man ihnen ausgedrillt. Eingedrillt aber hatte man ihnen den stumpfsinnigsten Gehorsam, den die Weltgeschichte kennt und der sie zwang, vor Achselstücken zu parieren, wo Gehirne fehlten. Daß sich auf beiden Seiten als Mithelfer dieser Schande Geistliche etablierten, sei vermerkt. Matth. 5, 43-46: »Ich aber sage Euch: Liebet Eure Feinde; segnet, die Euch fluchen; tut wohl denen, die Euch hassen; bittet für die, so Euch beleidigen und verfolgen.« Das Wort ihres Herrn hatten sie vergessen.

In den Armeeoberkommandos ging es inzwischen heiter her. Die Menüs aus dem Großen Hauptquartier sind für heutige Preise überhaupt nicht mehr erschwinglich, und es war wenigstens ein Trost, daß alle Speisenamen deutsch geschrieben wurden: es schmeckte patriotischer.

Die Etappe . . . Man hat alle Schuld auf die Etappe geschoben. Aber die Etappe war nicht vom Mond heruntergefallen; sie zeigte nur den deutschen Vorgesetzten, wie er war, wenn es ihm nicht unmittelbar an den Kragen ging: auch in der Etappe haben deutsche Offiziere gestanden, und zwar sehr viele. Man soll seinen politischen Gegner nicht im Bett aufsuchen, aber wenn man diese Marke Patrioten vom Kronprinzen bis herunter zu Knüppel-Kunze nicht in den Betten der Etappe aufsucht, dann wird man sie wohl kaum finden.

Die Ausschreitungen des Entente-Militarismus am Rhein sind nicht zu entschuldigen. Aber haben die Herren, die heute mit ihren ›Kriegsandenken‹ zu Hause sitzen, vergessen, daß da quittiert wird? Quittiert, was von Charleville bis zum kleinsten rumänischen Gendarmeriekommando gemacht worden ist? Was heute auf Minister schießt, war früher Offizier und kommandierte krähend die völkerrechtswidrige Zwangsarbeit der Belgier und Belgierinnen in Lille, wobei die Frauen aus anständigen Familien sämtlich sittenpolizeilich untersucht wurden. (Wenn man den ganzen Tag über den Bolschewismus bekämpfen muß, dann vergißt man solche Kleinigkeiten.) Die Niederlage kam. Kein Wasser und kein Blut wäscht von Herrn Ludendorff geb. Lindström jene Telegramme ab, in denen er mit seinem Freund Hindenburg um Waffenstillstandsverhandlungen innerhalb 24 Stunden wimmerte. Die Helden hatten 4 Jahre gebraucht, um zu bemerken, daß sie nicht siegen konnten. Heute bespeien sie die Heimat und verbreiten die Dolchstoßlegende und können alle nichts dafür.

[243] Die Lehre –?

Generale können keinen Krieg führen, wenn sie keine Soldaten haben.

Die Mißhandlungen, die deutsche Gefangene von französischen Militärs erdulden mußten, veranlassen heute noch viele, zu sagen: »Wenn es gegen Frankreich geht, dann nehme ich die Knarre auf den Buckel und gehe noch mal mit!« Aber er schösse auf Genossen, auf Arbeiter, wenn er noch mal mitginge, auf Menschen, die genau so unter der Knute des Kapitalismus zu leiden haben, wie der übereifrige Schütze selbst. Die Richtigen, die, die wirklich schuld sind, wird er niemals treffen. Die sitzen in Paris, wie sie bei uns in Berlin saßen.

Die Lehre –? Es ist an uns, nicht nur für unsere eigene Person jeden Kriegsdienst zu verweigern. Es ist an uns, durch Erziehung der Jugend auch unseren Kindern jenen dreimal verfluchten preußischen Geist auszutreiben, der so viel Unglück angerichtet hat in der Welt. Wollt ihr euch noch einmal betölpeln lassen? In ihren Zeitungsberichten und in ihren Lügenlesebüchern tun sie so, als ob sie brave deutsche Landsknechte des Mittelalters gewesen waren. Es waren aber nur verkleidete Kaufleute.

Ehre dem Andenken Karl Liebknechts, eines der wenigen, die im Weltenwahnsinn den Kopf mannhaft hochgetragen, ihn nicht unter den Stahlhelm beugten! Ehre dem Andenken aller derer, die mit ihm mit allen Mitteln – auch ungesetzlichen – gegen den Krieg gearbeitet haben!

Die Lehre –? Sie kann für den, der mit offenen Augen in die Welt sieht, nur die eine sein. Für uns Sozialisten kann es nur eine einzige Lehre dieses Krieges geben.

Und wenn noch einmal ein größenwahnsinnig gewordenes Beamtentum und eine Clique geldgieriger Kanonenfabrikanten, Brotwucherer, reklamierter Redakteure, abgedankter Fürstlichkeiten mit ihren eitlen, ruhmsüchtigen Frauen zum Kriege hetzen, dann möge der anständigere Teil der deutschen Nation, dann möge die gesamte Arbeiterschaft wie ein Mann aufstehen, ihnen Helm und Fahne aus der Hand schlagen und, belehrt durch Blut, gehärtet durch Leid in den Ruf ausbrechen:

Nie wieder Krieg!


  • · Ignaz Wrobel
    Freiheit, 01.08.1922.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 241-244.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon