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[335] Dies ist, glaube ich, das Wort der Zeit:
»Es will kein Mensch mehr wissen!« –
Sehen Sie, früher hat es Sensationen gegeben. Können Sie sich heute noch eine Sensation vorstellen?
Die Leute sind heftig abgebrüht. Da klatschen ihnen nun seit dem Krieg die Zeitungen die dicken Überschriften ins Gesicht – das kannte man vorher nicht, und in der ersten Zeit gab es über jede Schlagzeile eine neue Aufregung. »Namur genommen!« – »Antwerpen unser!« – »348756 Gefangene!« – Und die Menschen liefen zusammen wie die Ameisen. Das hat sich heftig gelegt.
Vom vorigen Frieden will ich gar nicht reden. Wenn damals der selige Kronprinz ein Patent auf Manschettenknöpfe erfunden hatte, dann genügte das dem Metropol-Theater für ein ganzes Jahr und Julius Freund für eines seiner himmlischen Couplets. Und wenn dann auf der Bühne der Name ›Willy‹ fiel und einer der Schauspieler sich nur auf die Hemdknöpfe sah, dann lachte das ganze Haus – denn jeder verstand gleich, was gemeint war. Und weil so erfreulich wenig passierte, deshalb hielt sich dergleichen auch im Gedächtnis, und die sechs Ereignisse des Jahres hatte jeder am Schnürchen.
Heute? – Du lieber Gott.
Otto Reutter singt einmal: »Ick wunder mir über jahnischt mehr!« – und auf diesem Status sind wir ja nun ungefähr angelangt. Alles[335] ist allen ganz egal. Die Aufnahmefähigkeit ist erschöpft. Sie können nicht mehr.
Zahlensensationen gibt es ja schon lange nicht mehr. Lassen Sie diesen Zahlenirrsinn des Dollars noch ›eine drei, vier Wochen‹, wie der Berliner sagt, andauern, und die Leute werden sich rasch daran gewöhnt haben, den Preis ihrer Frühstückssemmeln nach Lichtjahren zu berechnen . . . Das müde Auge liest: »Der Dollar 200000« und gleitet fast teilnahmslos darüber hin. Zu ändern ist da wohl nichts mehr . . . Zahlen imponieren heute keinem mehr. – »Denken Sie: dabei ist die Frau gut und gern ihre fünfundvierzig Jahre –!« – »Gott, was sind heute fünfundvierzig Jahre –!« –
Na, und sonst –?
Noch vor zwei Jahren hatte Berlin so seine kleinen Lokalsensationen: Lubitsch und prominente Politiker in Badehosen, Klante und Streiks, Bälle und Versammlungskrache. Das will heute kein Mensch mehr wissen. Neue Nachrichten? Es scheint keine Nachrichten mehr zu geben. Und wenn vermeldet würde, man habe Frau Lenin in den Armen Hitlers gefunden –: es will keiner mehr wissen. Wir hatten einen Feldwebel, der pflegte zu sagen: »Das ist mir pipeneengal!« – Wie wahr, Paulchen.
Es ist wirklich alles pipeneengal. Da liest man an den Litfaßsäulen, daß ein ganz Superkluger das einzige Mittel gefunden habe, um Deutschland vor dem Untergang zu retten. Kein Mensch bleibt stehen. Cuno geht – Cuno bleibt – die Orska ist in Südjapan gefeiert worden, daß es schon nicht mehr schön ist – Professor Einstein und Professor Steinach haben sich zusammengetan, um den Mars zu verjüngen – das will kein Mensch mehr wissen. Dahin, dahin.
Im Altertum hat mal einer einen Tempel angezündet, damit sein Name in die griechischen Zeitungen käme (damals gabs noch keinen Film). Heute gibt es kein Gebäude in Berlin – auch nicht das kleine Häuschen auf dem Lützowplatz, wo meine liebe Freundin, Frau Tittmann, ihres Amtes waltet – heute gibts kein Gebäude, das er mit Ruhm in die Luft sprengen könnte – kein Hündchen würde auch nur das Bein deshalb heben. Es will niemand wissen.
Diese Müdigkeit hat einen verdammt ernsten Hintergrund. Sind wir erschlafft? Ja, wir sind müde, weil wir alle genau wissen, daß uns noch keiner geholfen hat und vielleicht auch keiner helfen kann: die Partei nicht und der einzelne nicht, nicht der Staat und nicht seine Feinde, nicht die Dichter und nicht der Turbinenphilosoph Spengler, der einen neuen Typ, den spießigen Cäsar, erfunden hat . . . Das will kein Mensch mehr wissen.
Und so wie sich der Komiker Helmerding in der alten Weinstube von Lutter und Wegner einmal den Spaß machte, einen Kollegen totzusagen, und als der quicklebendig die kleine Treppe herunterpolterte,[336] zu flüstern: »Pst, Kinder! Er ist wirklich tot! Er weiß es bloß noch nicht!« so haspelt das alles weiter, und ist tot, und weiß es nur noch nicht. Dichter dichten, Musiker musiken, Redner reden, und die Wilhelmstraße hält Konferenzen ab: jeder seins. Aber es will kein Mensch mehr wissen. ›Der Untergang des Abendlands‹ – das ist nun etwas feierlich. Aber so etwa die Stimmung einer Schulklasse in der heißen Mittagsstunde – das ist es schon.
Wir sind so weit. Reparation – Nicht-Reparation – Umsturz – Weiterwursteln – Streik, Preiserhöhung, Rechtsbrüche, Klamauk und Klimbim – wir sprechen mit Schuster Fielitz aus dem ›Roten Hahn‹ Hauptmanns: »Ick verinteressiere mir for meine Stiebeln – for wat anders verinteressiere ich mir nich!« – Ach, hätten sich doch manche immer nur ›for ihre Stiebeln‹ interessiert! Den eigenen Stiebel. Und das andere? Das will kein Mensch mehr wissen.