»Potsdam –!«

[340] Neulich, als ich in der Scala war – seit das Varieté nicht mehr international ist, macht es keinen Spaß mehr, Kritiken darüber zu schreiben –, gab ich, in einem Anfall von Größenwahn, der Garderobenfrau ein paar Papierblätter mehr, als ihr zukamen. Sie sagte: »Danke, Herr. Und wenn Sie nachher kommen, dann werden Sie auch gleich bedient. Sie brauchen nur leise zu sagen: ›Potsdam!‹«

Siehe – das war ein deutsches Wort.

Die Garderobe ist stippevoll, die Leute drängeln sich, die Schwierigkeiten sind riesengroß, das Ganze recht unangenehm: da genügt das eine kleine Wörtchen: Potsdam – und alles, alles ist gut. Potsdam – das heißt: Schiebung außer der Reihe. Potsdam – das heißt: Bei uns geht alles ordnungsgemäß und streng nach dem Reglement zu, aber – du brauchst nur ein bißchen zu flüstern, dann kommst du eher dran. Potsdam – das heißt eben: Potsdam.

Da steht eine ganze Nation. Sie ist krachen gegangen, weil sie teutsch war, statt deutsch zu sein – und statt sich zur Abkehr zu wenden, glaubt sie, es liege daran, daß sie noch nicht teutsch genug war. Und Millionen gläubige Lippen flüstern: Potsdam! Aber die Garderobenfrauen der ganzen Welt scheinen diesen schönen Trick nicht zu kennen oder können wohl nicht gut hören: jedenfalls bedient keine. Und alle warten.

Übrigens habe ich das Sesam-Wort gar nicht angewendet. Ich dachte mir: Am Ende ist es gar nicht voll, und du stehst nachher da, ganz allein vor der leeren Garderobe, und murmelst: Potsdam! Oder, dachte[340] ich, wie schon die Leute heute sind: Du kommst hin, drängst dich durch den dichtesten Menschenhaufen, und um dich herum und vor dir und hinter dir stehen lauter Männer, die nicken alle der Garderobenfrau vertraulich zu und flüstern: Potsdam!

Was war zu tun? Etwa ›Weimar‹ sagen? Aber da hat die Nationalversammlung getagt, und das wirft einen Schatten selbst auf Goethe. (Denn als wir Republik sagten, haben wir das da nicht gemeint. Wirklich nicht.) Was war zu tun?

Ich habe gewartet. Ich habe ganz still gewartet. Wissen Sie: wenn man wartet, kommt man sehr oft viel schneller vorwärts als die Drängler. Man muß nur die Geduld haben. Denn was fangen die Hastigen schließlich mit ihren erhetzten zehn Minuten an? Sie kommen die paar Pulsschläge früher zum Sekt, auf die Bahn, an den bierigen Stammtisch, ins Bett. »Da wird he nicht klüger von«, sagen die Plattdeutschen. Nein, ich habe einfach gewartet und brauchte mich nicht zu drängeln, mit roten Köpfen schoben sich die Schieber an mir vorbei und ergatterten ihren Schirm und ihre Hüte, lagen vorn und waren die Tüchtigen.

Ich wartete. Und bekam meine Sachen ein bißchen später, ohne Zerren und Ziehen, ohne Schiebung und ohne Gedräng. Und, vor allem, ohne Potsdam. Und das ist die Hauptsache.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 12.07.1923, Nr. 28, S. 50.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 340-341.
Lizenz:
Kategorien: