Deutsches Lied

[354] Blasse Kinder auf dem Hof

(Nebenstraße – Westen)

machen einen kleinen Schwof

neben Müllschuttkästen.

Käse-Teint und bleicher Schopf.

Dürftiges Grün im Blumentopf

auf zwei Fensterbrettern.

Und die Stimmchen klettern:

»Kaserne! Kaserne!

Sonne, Mond und Sterne!

Achtung! Richtung! Vordermann!

Du – bist – dran –!«


Tief geduckt im Ziegelbau

hinter wuchtigen Laden

sitzen krumm, in Kitteln blau,

unsre Kameraden.

Staatsanwalt, der schikaniert,

Wärter, der sie malträtiert.

Ihre Stimmen leiern

in Preußen und in Bayern:

»Kaserne! Kaserne!

Sonne, Mond und Sterne!

Achtung! Richtung! Vordermann!

Du – bist – dran –!«


Deutscher Gram und deutsches Leid.

Ämter ohne Ende.

Wucher, den ein Staat gefeit,

und immer graue Wände.

Wir sind schuld. Ein Schrei, der gellt.

Aber draußen liegt die Welt.

Wir sind ganz alleine.

Und hören nur dies eine.

»Kaserne! Kaserne!

Sonne, Mond und Sterne!

Achtung! Richtung! Vordermann!

Du – bist – dran –!«


  • [354] · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 18.10.1923, Nr. 42, S. 381.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 354-355.
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