Reise in die kleine Stadt

[311] – »Nein, nicht grade älter oder gebeugter, Vater, das ist es nicht. Sie ist anders geworden, ganz anders!«

Aus einem alten Stück


Schwerin – Sie brauchen nicht zu wissen, wo Schwerin liegt. Ich wüßte es auch nicht, wenn ich nicht vor acht Tagen eine Reise dorthin getan hätte, wissen Sie, eine jener kleinen Reisen, auf denen man restlos[311] glücklich ist, weil die Dame neben einem blond und froh und jung ist, und wo noch das Hühnergegacker im Garten des Stationsvorstehers Spaß macht, weil es dazu gehört und weil eben alles Vergnügen und Freude macht. Ja, also Schwerin. Schwerin liegt in Mecklenburg, oben in der Nähe der Ostsee, und es war früher eine kleine stille Residenz, früher, als der Großherzog von Mecklenburg dort noch im Schloß regierte. Ach, das war eine schöne Zeit! Der Großherzog fuhr aus und rollte in leichtem Wagen durch die Stadt; er fuhr zwischen großherzoglichen Hoflieferantenschildern und grüßenden Hoflieferantentöchtern schnell dahin, um die Stadt lag das flache Land unbeschreiblich idyllisch, fett und auf das ungerechteste verwaltet da – aber die liebe Sonne beschien das alles, und jedermann hatte seine Freude daran. Der deutsche Revolutionsersatz machte den Großherzog nun auch äußerlich zu dem, was er immer gewesen war: zu einem reichen Gutsbesitzer; aus dem Schloß ist ein Museum geworden, und Schwerin ist leer, still und verlassen. Kaum einen Wagen sieht man durch die Stadt fahren, keine Wache ruft mehr »Heraus!!« – keine Polizisten hüten das Schloß – – aus. Vorbei.

Wir bummeln durch die Stadt. Vor zehn Jahren war ich zum letzten Male hier. Ja, es ist noch dieselbe Stadt. Sie ist auch nicht älter geworden, nicht umgebaut oder ehrwürdiger – aber anders ist sie geworden, ganz anders. Und während wir so durch Schwerin gehen, muß ich an alle kleinen deutschen Städte denken, die ich in den letzten Jahren sah, und plötzlich fällt mir ein, wie sie sich allesamt verwandelt haben und warum sie sich verwandelt haben. Es sind gar keine kleinen Städte mehr. Früher hatte der Großstädter so eine Art mitleidiges Lächeln auf den Lippen, wenn er eine kleine Stadt bereiste. – »Was kostet das ganze Unternehmen?« stand auf seinen Mienen zu lesen. Er ließ sich herbei, das Städtchen zu besichtigen – sie hatten eine ›richtige‹ Elektrische, ganz wie die Erwachsenen, sie hatten eine Wasserleitung, wie die Großen, und wenns ganz nobel zuging, auch ein steinernes Theater. Aber im übrigen waren es doch brave Ackerbürger, für die die Welt weit, weit dahinten lag, und die das alles nichts anging . . . Es ist nicht müßig, den Unterschied von heute und damals festzustellen – man versteht schließlich sonst die Welt überhaupt nicht mehr. Heute sind die Leute in den kleinen Städten genau so gewitzt wie die in den großen und vielleicht noch gewitzter. Heute führen sie alle genau dieselben Gespräche wie die in den großen: das Zahlengespräch (es gibt kaum noch ein deutsches Gespräch, in dem keine Zahlen vorkommen) – und das Gespräch, wieviel jeder hat, wieviel jeder nicht hat und wo man dies und jenes bekommt . . . Heute sind viele Bauern unendlich reicher, unendlich fundierter, unendlich besser daran als die Großstädter, in deren Bereichen der hinter dem Pflug früher, scheu die Mütze drehend, zur Decke und an den Häusern entlang hochschaute . . .[312] Der Sturm hat die dicken Stadtmauern eingerissen, die ja früher auch noch da bestanden, wo man sie längst niedergelegt hatte. Heute haben sie ihr Cabaret und ihre Tanzdiele und ihren schlechten Sekt – Hallo! Heute wuchern sie und werden bewuchert, schieben und werden geschoben, ganz wie in Berlin, und ihr Pulsschlag zittert, wenn die Börsenzeiger ausschlagen . . . Gibt es überhaupt noch kleine Städte? In Norddeutschland kaum. In ganz Norddeutschland ist die kleine Stadt uniformiert: in allen herrscht der gleiche Lebensbetrieb (Leben kann man das kaum nennen) – in allen klafft der gleiche harte und unerbittliche Gegensatz zwischen oben und unten – in allen ist die gleiche stupende Unkenntnis von allem, was da im Ausland vor sich geht – das deutsche Weltbild ist zur Zeit ganz monoman. Frankreich ist der letzte Schuft der Welt (wie früher einmal das ›krämerische England‹ wie früher Italien, wie früher . . . die Deutschen brauchen immer einen, der an allem schuld ist) – »die Welt ist neidisch auf Deutschland, weil es gar so tüchtig und arbeitsam ist« – und im übrigen: »Was kostet heute die Butter?« – Sie kostet viel. Sie kostet so viel, weil alle kleinen Städte zusammen, weil ein ganzes Volk nicht einsieht, wie eben diese falsche und lärmende Betriebsamkeit das Unglück gebracht hat, wie sich die Mark und das Mark immer mehr verschlechtern, weil beide krank sind.

Der Wirt des Kurhauses bei Schwerin hebt zum Abschiedsgruß den Hut. Er hat uns bis zum letzten Pfennig ausgezogen, wir haben Koffer und Mantel gerettet und verlassen fluchtartig die Gegend. In der Stadt liegt der Pfaffenteich; er ist zugefroren, und die Leute gehen darüber hin. Sie sehen nicht vergnügt aus und haben kummervolle Gesichter. Sie rechnen . . . Durch alle Ritzen und Vorhänge schleicht es herein. Wir spielen ›kleine Stadt‹ und wollen vergessen, was draußen ist. Aber es ist aus damit – die kleine Stadt sperrt sich und gibt knapp die Kulissen her. (Und auch die nur gegen hohe Leihgebühr.) Früher sprangst du wohl aus der Zeit – Heute ist 1923 überall. Welch ein Jahr! Und es bleibt dir nichts übrig, als dich in der kleinen Stadt und in einem kleinen Land damit zu trösten, daß hinterm Berg auch noch Leute wohnen, sie zu grüßen, wenn sie reinen Herzens, und ihnen über die Grenzpfähle die Hand zu drücken, wenn sie deine Geistes- und Gesinnungsfreunde sind.


  • · Peter Panter
    Prager Tageblatt, 28.02.1923.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 311-313.
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