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[413] Ein in Deutschland weitverbreiteter Arbeitgebertrick ist folgender:
Der Leiter eines Unternehmens schließt mit Ihnen einen Vertrag. Dabei sagt er: »Wissen Sie, das ist ja eigentlich ganz überflüssig, daß wir alle diese Punkte fixieren – so, wie wir mit einander stehen! Es ist nur der Ordnung halber. Sie verstehen: ich kann nur mit Leuten zusammenarbeiten, mit denen ich auch menschlich« – dies Wort darf nicht fehlen! – »übereinstimme. Seien Sie mir nicht ein Angestellter – seien Sie mir ein Freund!« Gut. Und das faßt er so auf:
[413] Sie sind sein Freund. Sie liefern mehr, als Sie zu liefern haben. Sie arbeiten mehr als sein Portier, länger, ausdauernder, intensiver, vertrauensvoller. Sie wahren seine Geheimnisse, Sie geben sich Mühe, Sie fördern das Unternehmen, als ob es Ihr eignes oder das Ihres Vaters wäre – kurz: Sie gerieren sich ihm gegenüber, als wären Sie ein Geselle aus einer Zunft des Mittelalters, ihr seid innig vertraut, eng aneinandergekettet . . . Das heißt: Sie sind es.
Er weniger. Er erfüllt genau seine Pflichten, wie jedem seiner Angestellten gegenüber. Sie bekommen nicht einen Pfennig mehr – nicht einen Tag Urlaub länger. Denn der Menschliche hat ganz vergessen, daß der Arbeitsherr im Mittelalter zwar den Lehrling und den Gesellen bis spät in die Nacht hinein ausnutzte, dafür aber auch für sie sorgte, wenn sie krank waren, sie ausstattete, wenn sie sich verheirateten, sie bevaterte, wenn sie keine Eltern hatten. Ah – nichts von alledem!
Der moderne Patriarch nimmt die Rechte eines Zunftherrn in Anspruch, ohne dessen Pflichten zu erfüllen. Sie sind krank? Aber Sie sind in einer Krankenkasse. Sie wollen heiraten? Heiraten Sie kein armes Mädchen. Sie wollen unvermutet, aus drängendem Anlaß, Urlaub? Sie sind leider im Augenblick unentbehrlich. Ein Zeichen, wie man Sie schätzt.
Thomas Mann hat einmal erzählt, wie er als Kind vor Ärger weinte, wenn er kleine Männerchen auf Papier gekritzelt hatte, und die Leute fragten gleich: »Wer soll das sein?« Es sollte niemand sein.
Der einseitige Patriarch ist kein Porträt. Er ist ein Typus.