Gebet für die Gefangenen

[531] Herrgott!

Wenn du zufällig Zeit hast, dich zwischen zwei Börsenbaissen

und einer dämlichen Feldschlacht in Marokko auch einmal um

die Armen zu kümmern:

Hörst du siebentausend Kommunisten in deutschen Gefängnissen

wimmern?

Kyrie eleison –!


Da sind arme Jungen darunter, die sind so mitgelaufen,

und nun sind sie den Richtern in die Finger gefallen;

auf sie ist der Polizeiknüppel niedergesaust,

der da ewiglich hängt über uns allen . . .

Kyrie eleison –!


Da sind aber auch alte Kerls dabei, die hatten Überzeugung,

Herz und Mut –

das ist aber vor diesen Richtern nicht beliebt,

und das bekam ihnen nicht gut . . .

Kyrie eleison –![531]


Da haben auch manche geglaubt, eine Republik zu schützen –

aber die hat das gar nicht gewollt.

Fritz Ebert hatte vor seinen Freunden viel mehr Angst

als vor seinen Feinden – in diesem Sinne: Schwarz-Rot-Gold!

Kyrie eleison –!


Herrgott! Sie sitzen seit Jahren in kleinen Stuben

und sind krank, blaß und ohne Fraun;

sie werden von Herrn Aufseher Maschke schikaniert und

angebrüllt,

in den Keller geschickt und mitunter verhaun . . .

Kyrie eleison –!


Manche haben eine Spinne, die ist ihr Freund;

viele sind verzankt, alle verzweifelt und sehnsuchtskrank –

Ein Tag, du Gütiger, ist mitunter tausend Jahr lang!

Kyrie . . .


Vielleicht hast du die Freundlichkeit und guckst einmal

ins Neue Testament?

Bei uns lesen das die Pastoren, aber nur sonntags –,

in der Woche regiert das Strafgesetzbuch und der Landgerichts-

präsident.

. . . . eleison –!


Weißt du vielleicht, lieber Gott, warum diese Siebentausend

in deutsche Gefängnisse kamen?

Ich weiß es. Aber ich sags nicht. Du kannst dirs ja denken.

Amen.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 23.12.1924, Nr. 52, S. 950, wieder in: Deutschland, Deutschland.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 531-532.
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