[378] Meine Eindrücke nach fünfwöchigem Aufenthalt in Paris sind folgende:
Den Fremden umfängt zunächst die Weltstadt. Der ungeheure Zusammenfluß von Vergnügungsreisenden, Sportsleuten der Olympischen Spiele, Diplomaten, Kaufleuten aus fünf Erdteilen, modischen Frauen, Schmarotzern, Abenteurern, Passanten, französischen Provinzlern brodelt über die Boulevards, jagt den Strom der großen und kleinen Automobile über die Champs Elysées, stept in den Nachtlokalen und überfüllt die Hotels. Die Fremdenindustrie ist groß, doch nicht so groß, wie man denken sollte. Fast immer ist die ›Aufmachung‹ sehr reizvoll, unerträglich nur da, wo sie ›echtes altes Paris‹ vortäuscht und eine Romantik herzustellen bestrebt ist, die den literarischen Assoziationen der Fremden von Murger bis Jésus-la-Caille entgegenkommt. Diese Art[378] Romantik existiert entweder überhaupt nicht, oder sie ist nur zeitlich zu fassen, das heißt: man empfindet sie vielleicht nach Monaten. An einen Ort ist sie nicht gebunden.
Paris ist eine liebenswürdige Stadt: Alles wird aus einer leichten Hand gegeben. Vor allem verlangt die Stadt nicht, daß man sich durchaus nach ihr richte – sie läßt in Äußerlichkeiten dem Fremden Willen und Bequemlichkeit. Das erste, was dem Deutschen auffällt, ist nicht ein Wagenverkehr, der einer großen Stadt angemessen ist, sondern die Tatsache, daß alle Leute nett zu einander sind. (In Deutschland sind die Menschen zunächst einmal unhöflich – hier zunächst einmal höflich.)
Hinter der Fremdenstadt, fast völlig von ihr abgeschlossen, liegt das arbeitende Paris. Paris ist eine Stadt, in der ungeheuer gearbeitet wird; soweit ich das übersehen kann, mehr als bei uns und vor allem viel intensiver. Paris arbeitet – Berlin schuftet. Es wird hier vielleicht weniger organisiert – aber mehr getan. Die reizvolle Tatsache, daß abends um neun Uhr noch viele Läden offen halten, und daß man sich um diese Zeit, auch am Sonntag, wenn es einem Vergnügen macht, eine Krawatte kaufen kann, bedeutet für die Angestellten eine erhöhte Arbeitszeit. Es sind nicht immer nur die Ladenbesitzer, die zu diesen Zeiten arbeiten.
Bei näherer Betrachtung lassen sich innerhalb von Paris Kleinstädte völlig verschiedenen Charakters feststellen, die quartiers, deren kleinbürgerliche Bewohner oft genug ihren Aktionsradius nicht allzuweit ausdehnen. Die ›rive gauche‹ ist nicht nur für den Hausmeister des rechten Ufers ein Land hinter den Bergen.
Das Leben ist nicht billig. Das Schlagwort ›La vie chère‹, das in der Wahlbewegung eine so große Rolle gespielt hat, ist berechtigt, mißt man den Lebensstandard nicht an den Mitteln eines Vergnügungsreisenden. Maßgebend ist: Wieviel Stunden muß der Angestellte arbeiten, um sich einen Anzug, ein Stück Fleisch, ein Kinderbett zu kaufen? Die Löhne sind ähnlich unzureichend wie in Deutschland – der Aufwand für den Lebensunterhalt im ganzen wohl etwas kleiner. Am teuersten ist die Miete; es gibt viele Budgets, in denen sie ein Drittel der Ausgaben ausmacht. Schuld daran ist zur Zeit neben der Wohnungsnot wohl die Spekulation auf die Zureisenden zu den Olympischen Spielen. Die Preise für Bekleidungsgegenstände sind nicht ganz so hoch wie in Deutschland, für vieles niedriger, so für Wäsche; Gebrauchsgegenstände sind im allgemeinen billiger. Wesentlich niedriger sind die Preise für fast alle Nahrungsmittel – das Essen in allen Lokalen besser, billiger und mannigfaltiger als in Deutschland. Noch in den kleinsten Kutscherkneipen ißt man gut – es wird fast überall gekocht und nicht industriell fabriziert.
Was das Leben so sehr angenehm macht, ist die Leichtigkeit: von[379] der Küche bis zum geistigen Meinungsaustausch haben die Dinge Gehalt, ohne zu lasten.
Das gesamte äußerliche Bild ist schöner als in Berlin: Architektur und das Licht der hellen Tage geben einen zarten Glanz. An Regentagen sieht das Auge kritischer und klarer: man wird gewahr, daß unter den gleichen ökonomischen Bedingungen in dem gleichen Mitteleuropa die Menschentypen nicht so wesentlich verschieden sein können und es auch nicht sind. Die arbeitende Pariserin, die Kommis, die Buchhalter sehen so aus, wie sie zum großen Teil auch in Berlin denkbar sind. Der Frauentypus, der auf den Straßen zu sehen ist, ist nicht hübsch und hat zum allergrößten Teil nicht den flair, den man ihm heute noch andichtet. Was festzustellen ist: Die Leute sind nicht so verdrossen und nicht so gereizt wie in Deutschland. Ich bin morgens mit der Flut der Angestellten in der Untergrundbahn gefahren, ich habe sie abends gesehen, wenn sie von der Arbeit zurückkamen – sie waren morgens eilig und abends müde, aber niemals in ihrer Gesamtheit so verärgert und stumpf, wie wir das kennen.
Die ungeheure Größe der Niederlage, die wir dem deutschen Militarismus verdanken, wird erst klar, wenn der so lange Zeit hindurch abgesperrte Deutsche wieder ins Ausland kommt: nicht das erschüttert bis zu Tränen, daß es Butter und fröhliche Menschen und Seide auf der Welt gibt, sondern daß niemand ein Wesens davon macht, und daß alle es selbstverständlich finden.
Der Franzose ist ein außerordentlich zurückhaltender Mensch, der fast anonym lebt und leben will. Es ist kein Zufall, daß an den Türen keine Wohnungsschilder befestigt sind – wer da wohnt, geht nur den an, dens angeht. Wenn ich ein Bild gebrauchen darf: in den französischen Salon kommt man sehr leicht – ins Eßzimmer nur sehr schwer. Sieht man von den Plätzen ab, wo ausschließlich Fremde verkehren, so wird man nirgends betrogen und nirgends hineingelegt. Zwanzig Centimes sind ein kleiner Wertgegenstand; ›nach oben abzurunden‹ ist unbekannt.
Der Fremde wird überall mit gleichmäßiger, routinierter Höflichkeit behandelt. Wenn er nicht ganz grobe Anstandsfehler begeht, kann er sicher sein, niemals wegen eines Versehens, wegen einer Unkenntnis ausgelacht oder gar, wie bei uns, angefahren zu werden. In Berlin sind die Untergrundbahnschaffner persönlich beleidigt, wenn ein Inder ihr Dienstreglement nicht kennt – hier gibt es viel zu viel Fremde, als daß dergleichen auffallt. Eine leichte Animosität gegen Deutsche besteht – ich spreche jetzt immer von anonymen Bürgern, nicht von den Läden und Vergnügungsstätten, die von Fremden leben, und nicht von den internationalen Salons und Gesellschaftskreisen, die den Deutschen mit einfacher Selbstverständlichkeit aufnehmen. (So die wahrhaft internationale Frau Ménard-Dorian.) Die Animosität ist übrigens lange nicht so[380] groß wie die gleiche in Deutschland gegen Franzosen. Zur Ungezogenheit versteigt sie sich meines Wissens niemals. Mütter, deren Söhne im Kriege gefallen sind, tragen dem einzelnen Deutschen nichts nach – man erzählte mir, daß selbst im zerstörten Gebiet schon 1919 ein deutscher Professor, der die Leiche seines Sohnes suchte, von den Frauen bemitleidet und unterstützt wurde.
Der Deutsche in Paris hat, nach meinen Erfahrungen und nach den mir gewordenen Informationen, einen Halt an der hiesigen Gesandtschaft, die zugleich die Konsulatsgeschäfte versieht; der Ton ist mit dem bei andern deutschen Behörden nicht zu vergleichen, die Beamten sind höflich und hilfsbereit.
Was die Kunst angeht, so ist Paris eine Stadt des ›Noch‹. Sie liegt von Amerika und von Rußland viel weiter entfernt, als die Karte angibt. Sie ist noch nicht zerstampft von der Industrialisierung der einen und noch nicht angefressen von der skeptischen Problematik der andern Seite. Es ist alles ›noch‹ – vieles davon in der höchsten Vollendung.
Das Theater erscheint – in seiner Gesamtheit – für unsre Anschauungen veraltet, wenn man an Stanislawski, Brahm, Reinhardt, die berliner Zeit vor dem Kriege denkt. Um nicht falsch verstanden zu werden, möchte ich betonen: Das französische Theater erscheint mir nicht so wertvoll wie das nichtoffizielle deutsche Theater; was die deutschen Hoftheater brachten, und was die Kommissionen der deutschen Stadttheater heute noch anordnen, steht natürlich weit unter jedem pariser Niveau. Die französischen Autoren denken sich oft genug ›Geschichten‹ aus, Einzelfälle, mit denen der moderne Hörer nichts anzufangen weiß. Die Deklamation ist die Stärke der französischen Schauspiel-Tradition – man kann in den meisten Fällen nur grundsätzliche Einwendungen machen. Das Publikum in vielen Theatern ist weitaus naiver als das deutsche.
Die Wahlen haben das Stadtbild von Paris nicht sehr verändert. Kenner sagen, daß die Interesselosigkeit noch niemals so groß gewesen sei wie diesmal. Der Mischmasch der Parteien, die im Grunde alle dasselbe sagten und alle etwas andres meinten, die Verworrenheit der internationalen Lage, die der Wähler nicht übersehen hat, die allgemeine Müdigkeit und die Abneigung vor der großen Phrase erklären das wohl.
Die Wahlversammlungen waren nicht sehr ergiebig, wenigstens nicht in Paris. Sehr viel Spektakel und sehr wenig geistige Bewegung. Auch Herr Léon Daudet, der übrigens nicht wiedergewählt worden ist, als Schriftsteller besser denn als Redner, konnte daran nichts ändern. Erstaunlich ist die außerordentliche Informiertheit französischer Politiker über Deutschland – und zwar nicht über die Zahlen der schwarzen Reichswehr, sondern, was viel blamabler ist, über die deutsche Denkart.
[381] Auch aus den Zeitungen konnte man ersehen, daß die Wahlen nicht im Mittelpunkt des Interesses standen, aus diesen Zeitungen, die nicht einmal viel unterhaltsamer sind als die deutschen. Die beste Zeitung, weit über dem Niveau auch der deutschen Presse stehend, weil viel freier, viel unabhängiger, viel, viel mutiger, ist ›L'Oeuvre‹.
Der Ausfall der Wahlen wurde im allgemeinen so erwartet, wie er gekommen ist – an einen so großen Sieg hat allerdings die Linke selbst nicht geglaubt. Bis zuletzt war man dort beinahe pessimistisch – besonders in den letzten Tagen vor der Wahl. Die Provinz hat gegen Paris entschieden.
Wenn Frankreich gegen Poincaré votiert hat, so bedeutet das nicht, daß es eine besondere Liebe zu Deutschland hat. Deutschland spielt hier nicht die Rolle, die monomanische Deutsche ihm zusprechen. Deutschland ist in Frankreich ganz einfach ein Faktor in der Beurteilung innenpolitischer Fragen – eine Politik des Deutschenhasses gibt es nicht. Wenn das französische Volk die bisherige Ruhrpolitik verurteilt hat, so ist das geschehen, weil es über die Methoden dieser Politik andrer Meinung ist als Poincaré. Über die Tatsache, daß gezahlt werden muß, und daß bisher nicht genügend gezahlt worden ist, besteht keinerlei Zweifel, auch auf der Linken nicht. Was der Franzose will, ist: Ruhe. Den beiden Schlagworten: »Pas de guerre!« und »Pas de vie chère!« steht unsichtbar ein drittes zur Seite, das das gesamte französische Leben beherrscht: »Pas d'histoires!« Das Volk mag nicht mehr: keinen Krieg, keine Verwicklungen, keine Reibereien. Der Krieg ist hier nie so populär gewesen wie in Deutschland. Bretonische Bauern glaubten im Jahre 1914, als es gegen die Boches ging, das seien Engländer – die einen waren ihnen so fern wie die andern, und das Wort, das der Süden im Kriege zu durchreisenden Parisern zu sagen pflegte, ist berühmt: »Et votre guerre – ça marche bien?« Deutschland dachte darin strammer.
Das Volk will keinen Krieg. Ich habe in einem Panoptikum pariser Bürger vor dem Bild Wilhelms des Zweiten passieren sehen: er sitzt da in einem Käfig, gebrochen und ohnmächtig fletschend. Es fiel kein Wort – das interessiert nicht mehr. In einem kleinen, von Handwerkern und Arbeitern besuchten Theater wird eine Szene im Schützengraben vor dem brennenden Reims gespielt; einer der Soldaten sagt eine große Arie gegen den Krieg auf und schließt: »Nous voulons une république européenne!« Donnernder Beifall. Sie wollen nicht mehr.
Es hat politisch nie so günstig für Deutschland ausgesehen wie in diesem Augenblick. Seit Jahren treibt Deutschland dieses törichte Spiel: es gibt in der Sache nach, behält sich aber vor, den Verhandlungsgegner hinterher zu beschimpfen. Man nennt das bei uns Prestige.
Es mag ja in Halle sicherlich einen großen Eindruck machen, wenn irgendein Leutnant feststellt, Deutschland sei eigentlich gar nicht besiegt[382] worden, und für Halle reichen diese Redeübungen auch aus. In der Welt kümmert sich kein Mensch mehr um diese Frage, die längst entschieden ist. Wenn aber die deutschen Richter, die den Unfug der Völkischen in jeder Weise begünstigen, eine Ahnung hätten, was draußen aus den Torheiten des Herrn Ludendorff-Lindström gemacht wird, dann würde ihnen vielleicht, wofern sie dieser Einsicht noch fähig sind, ein Licht über das Wesen des viel zitierten ›Landesverrats‹ aufgehen.
Deutschland spricht längst nicht mehr zur Welt. Es hat erneut eine Gelegenheit, es zu tun. Die Unsitte, nicht zu den Leuten draußen, sondern mit Rücksicht auf den Wähler in Anklam Reden zu halten, die in gar keinem Verhältnis zur Lage stehen, hat bisher alles verdorben. Frankreich streckt erneut die Hand hin – die Welt streckt erneut die Hand hin. Wir haben keine Bedingungen zu stellen – denn sie haben den Krieg gewonnen. Nicht wir.
Was wir verlangen können, ist, daß Exekutionen das nationale Selbstgefühl nicht unnötig verletzen. Es sind sicherlich an der Ruhr Dinge vorgekommen, die nicht zu entschuldigen sind, und das weiß die französische Linke ganz genau. Aber mit kindischen Scheltartikeln auf Poincaré ist es jetzt nicht getan. Es muß vernünftig und besonnen von einer Demokratie zur andern verhandelt werden. Dazu müssen freilich zwei da sein. Frankreich hat eine.
Was die Flauheit des deutschen Bürgertums, was die verächtliche Haltung der Sozialdemokratie in Deutschland hat groß werden lassen, kann der Beginn einer neuen Katastrophe sein. Kein Francsturz hilft uns; die französische Währung kann wanken, aber nicht zusammenbrechen. Frankreich ist gesund. Für Deutschland aber ist es jetzt an der Zeit, mit der Welt wieder ins reine zu kommen. Jetzt oder nie.
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