Anatole France in Pantoffeln

[27] In Paris ist ein kurioses Buch erschienen, das in einem Monat fünfzig Auflagen erreicht hat: ›Anatole France en pantoufles‹ von Jean-Jacques Brousson (bei G. Crès et Cie., Paris). Brousson war Sekretär bei France. Er schildert in kleinen Geschichten und Anekdoten tausend Charakterzüge, Eigenheiten, persönliche und häusliche Szenen aus dem Privatleben des Meisters. Vielleicht hätte er lieber ›Anatole France im Käppchen‹ schreiben sollen, weil das ja charakteristisch für den großen Mann war.

Das Buch ist – um seinen Vorzug zuerst zu nennen – unendlich amüsant. Manches geht für uns deutsche Leser verloren; da findet sich viel französischer Literaturklatsch (die französische Literatur ist um vieles verklatschter als die deutsche; jeder weiß jedes von jedem, und neulich stand sehr ernsthaft in der Zeitung auseinandergesetzt, welchen Likör der Preisträger des Prix Goncourt den Besuchern kredenzt hat). Es finden sich aber außerordentlich viel Anekdoten und Bemerkungen des alten Herrn, die auch einem deutschen Leser ohne weiteres verständlich sind. Darunter sind reizende Geschichten. So die von der nicht mehr ganz jungen Dame, die sich vor France niedlich machte, ihn fast mit Gewalt in den Wagen nötigte und dort ein neckisches Spiel mit ihm anhub. Bis es dem Meister zu viel wurde und er sie fragte, ob sie mit ihm wohl ein kleines Spiel spielen würde. »Wenn es unschuldig ist«, sagte die Schelmin, »gewiß!« – »Na dann«, sagte France, »wollen wir einmal alle spielen, daß wir die Hände hübsch an den Wagentüren halten!« – Worauf sie den Wagen halten ließ und er sehr freundlich »Guten Abend, gnädige Frau!« sagte. Es finden sich viele interessante Bemerkungen über Literatur aufgezeichnet sowie eine Fülle maßlos unziemlicher Geschichten, die auch nicht andeutungsweise übersetzt werden können.

Und hier steckt der Nachteil des Buches. Es ist das erste undelikate französische Buch, das mir in die Finger fällt. Ganz abgesehen davon, daß manches etwas reichlich massiv ist und sogar durch die französische Sprache kaum gemildert erscheint, hat doch dieser Eckermann seinen Posten nicht taktvoll aufgefaßt. Er stellt Frau France hin . . . das muß man gelesen haben, welche Rolle sie in diesen Schilderungen spielt. Gut – das mag noch angehen. Aber daß Herr Brousson Dinge veröffentlicht, die France ihm – und sicherlich nicht in dieser Form – von Mann zu Mann anvertraut haben mag, das geht übers Bohnenlied. In Frankreich verliert France durch diese kleinen Skandalgeschichten nichts, bei uns wäre er unten durch. Aber es schmeckt nicht gut, das Gericht; es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack auf der Zunge, man hat ein bißchen gelacht, und hinterher wird man ärgerlich. Denn alles paßt zu dem Andenken an diesen einzigen Schriftsteller: nur keine plumpe Vergröberung seiner erotischen Erlebnisse. Solche Dinge kann man vielleicht einmal sagen – aber man kann sie nicht in fünfzig Auflagen drucken lassen.

[27] Hier folgt mit der Genehmigung des Verlages Crès et Cie. eine Probe aus dem trotz allem lesenswerten Buch (das übrigens wegen seines ungepflegten Stils und wegen seiner mangelnden Tiefe auch bei französischen Kritikern Widerspruch gefunden hat).

Die Übertragung ist frei; außerdem muß man sich immer vergegenwärtigen, daß es sich hier um unkontrollierbare Gesprächswiedergaben handelt.

»Als Clemenceau Ministerpräsident war, hat Anatole France seinen Posten bei der ›Neuen Freien Presse‹ in Wien übernommen. Frau France hatte die Sache abgeschlossen. Alle Woche, an jedem Mittwoch, wiederholte sich um 5 Uhr nachmittags folgende Szene:

Frau France: ›Der Mann ist da von der ›Neuen Freien Presse‹.‹

Herr France: ›Was will der Mann von der ›Neuen Freien Presse‹.‹

›Er will den Artikel. Er muß heute abend noch nach Wien weg, sonst kommt er nicht rechtzeitig an.‹

›Heute abend noch? Ja, wer hält ihn denn zurück?‹

›Du. Ich habe dich schon ein paarmal daran erinnert, aber du hörst ja nicht auf mich.‹

›Deine häßlichen Beleidigungen zerreißen mir das Herz. Häßlich und außerdem durchaus ungerecht . . . ‹

›Rede nicht. Man braucht dich nur um etwas zu bitten, schon machst du das Gegenteil. Der Mann muß diesen Artikel mitnehmen, du hast eine halbe Stunde Zeit.‹

›Gut. Schick den bösen Mann von der ›Neuen Freien Presse‹ in die Küche und gib ihm ein Glas Wein, er soll das hübsch langsam austrinken. So, und mir gib den ›Figaro‹ und die ›Humanité‹ und . . . ‹

Die Zeitungen werden in aller Hast zusammengesucht. Alle Mann sind an Deck. Anatole France, Frau France, der Sekretär. Die Zeitungen fliegen nur so herum, wie in einem Garten, wenn es windig ist.

›Also, vor allen Dingen möchte ich gern wissen: Was ist das wichtigste Ereignis der Woche?‹

›Kommst du vom Mond? Wo lebst du? In Frankreich oder bei den Hottentotten? Und außerdem weißt du ganz genau, das wichtigste Ereignis ist das, worüber du schreibst. Die Leute in Wien werden das genießen, was du die Gnade hast ihnen zu schicken, es wird ihnen eingehen wie Butter.‹

›Aber nun hilf mir doch! Diese ›Neue Freie Presse‹ ist die Pein meines Alters. Wenn ich nur wüßte, warum ich diesen Sklavendienst auf mich genommen habe!‹ Aus den Zeitungen werden die wichtigsten Stellen mit der Schere ausgeschnitten. ›Wozu soll ich da eigentlich noch etwas ändern?‹ sagt Anatole France. ›Das wird einfach übersetzt.‹

Nächste Szene. Die Vorigen. François, der Kammerdiener.

›Gnädige Frau, der Bote von der ›Neuen Freien Presse‹ . . . ‹

›Geben Sie ihm noch ein Glas Wein.‹[28]

Mit großer Mühe hat France den ersten Absatz fertig. Dann kommt ein riesiges Zitat. Der Meinung von ›La Croix‹ stellt Frau France (mit der Schere) ein anderes Zitat aus der ›Humanité‹ gegenüber.

Was ich (der erzählende Sekretär) aufgekritzelt habe, wird mir aus den Händen gerissen. Das macht alles zusammen eine Spalte aus.

Nächste Szene. Die Vorigen. François.

›Der Mann von der ›Neuen freien Presse‹ . . . Er sagt, er muß mit dem Artikel los, sonst verfehlt er den Zug!‹

›Er soll noch ein Glas Wein . . . ‹

›Gnädige Frau, er hat schon die ganze Flasche ausgetrunken.‹

›Was war es für welcher? Weißer oder roter?‹

›Roter, gnädige Frau!‹

›Dann geben Sie ihm weißen! Und halten Sie ihn noch eine Viertelstunde auf. Und, François, wenn er Hunger hat, dann soll er Schinken und Käse bekommen . . . Was hast du nun inzwischen gemacht, während ich so kostbare Zeit für dich gewonnen habe? Du hast inzwischen kleine Mädchen gezeichnet! Und dabei soll das Ministerium gestürzt werden! Das ist, um sich aus dem Fenster zu werfen!‹

›Da gibt es eine Stelle bei Lamennais . . . ‹

›Du hast nur noch eine Viertelstunde Zeit. Ich kenne dich doch. Du brauchst mindestens acht Tage, um eine Stelle oder sonst etwas zu finden. Was sagt denn dein Lamennais vom Ministerium? – Na ja, dann schreibs hin.‹

Nächste Szene. François (wie oben):

›Der Mann von der ›Neuen freien Presse‹ sagt, er hat keine Lust, entlassen zu werden, er geht jetzt. Übrigens ist er voll wie ein Omnibus!‹

France signiert den Artikel.

›Schade um den schönen Artikel!‹ sagt er. ›Jetzt hat der Mann einen sitzen und wird ihn im Rinnstein verlieren!‹«


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 28.01.1925.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 27-29.
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