Die Dekadenten

[276] Wenn neben den Treibereien des Flotten- und Wehrvereins und neben der bösartig-ungeschickten Haltung der deutschen Diplomatie etwas zum Kriege beigetragen hat, so sind das die Berichte der unpolitisches Korrespondenten aus Frankreich vor dem Kriege.

Die haben unentwegt und durch Jahre hindurch behauptet, dieses Land sei am Ende, sei krank, dekadent, schwach, kernfaul . . . Daß sechzig kriegerische Millionen vierzig nichts als ruhebedürftige Millionen besiegen können, leuchtet ein. Daß aber eine wunderbare Kraft, die in keinem Bizeps in die Erscheinung tritt, den Franzosen die Fähigkeit verlieh, während des Krieges niemals die Nerven zu verlieren, davon hat man uns nichts gesagt. Im tiefen Unglück, vor der Marne-Schlacht, im höchsten Glück, im November 1918, immer gemessen zu bleiben, immer das Gleichgewicht zu behalten – das scheint mir gar nicht dekadent. Aber die Schilderer brauchten das. Sie setzen ihr Werk heute fort.

Wir können uns auf den Kopf stellen – kein Literat wird so gelesen wie der namenlose Schmierer, der die ausländischen Zeitungen ausschlachtet. Welche Messerstechereien –! Welche Vorstadtmoral –! Welche Hurengeschichten –! Der fremde Leser muß den Eindruck gewinnen: So ist Frankreich. Daß aber einem – gewöhnlich aufgeblasenen – Skandalfall Millionen ruhige und arbeitsame Menschen gegenüberstehen, davon ist nichts zu lesen.

Ich spreche nicht einmal von den Auswüchsen des Kriegswahnsinns. Da haben Betriebsame, die ihren Ruf, ihr Geld und ihre Stellung Frankreich verdankten, auf der Terrasse von Saint-Germain gedankenvoll empfunden, dieses alles müsse ein Ende nehmen und könne nicht dauern . . . während doch grade der Thron ein Ende nahm, vor dem sich – jenen zufolge – die letzten drei Deutschen verneigten und von vorn anfingen . . . Manche Leute sind nur bei einem schlechten Gedächtnis zu ertragen.

Aber wenn ich heute die deutschen Zeitungen lese – was muß ich da alles über das Land erfahren, wo ich lebe! Die Frauen bekommen nie Kinder, die Mädchen sind nur für wenige Stunden des Tages vertikal anzutreffen, die Männer schießen sich Löcher in den Bauch oder stehlen Geschmeide . . . das muß ja ein dolles Land sein! Ist es auch.

Denn so etwas von ruhiger Zufriedenheit, von allgemeiner Ausgeglichenheit, von tiefer, tiefer Bürgerlichkeit war noch nicht da. Politiker mögen die bekämpfen, scharfe Beobachter mögen alles Mögliche in ihr sehen – aber sie ist vorhanden, unbestreitbar vorhanden, sie ist das Allerunromantischste von der Welt.

Überschrift, fett: »Greisenmorde in Paris!« Na, gewiß doch. Die einzigen, die leider Gottes aus diesem allgemeinen pariser Morden lebend[276] davonkommen, sind jene Reporter, die schon einmal dem deutschen Volk eingeredet haben, jenseits des Rheins wohnten die Verderbnis, die Degeneration, die Dekadenz. Es wohnen aber Menschen da, die ihre fünf Sinne beisammen haben, und deren Seele man nicht kennen lernt, wenn man ihre Zeitungen ausschmiert.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 01.12.1925, Nr. 48, S. 845.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 276-277.
Lizenz:
Kategorien: