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[116] Paul von Hindenburg hat sich am Abend des Wahlsonntags ruhig zu Bett gelegt, bevor er das Resultat erfahren hatte, das ihn zum Präsidenten dieser Republik machte. Er war gar nicht unruhig, und am Morgen wachte er auf, durchaus nicht erstaunt, zu hören, was man ihm zu sagen hatte.
Die Herren Republikaner gingen am Sonntag spät ins Bett und waren recht erstaunt, als die Zählung der Stimmen beendigt war. Das hatte man nicht erwartet! Das nicht. »Hindenburg . . . ? Lieber Freund, die Zeit ist vorbei . . . !« Warum sind diese Sozialisten, Demokraten, die gemäßigten Pazifisten – warum sind sie eigentlich erstaunt?
Sie haben geerntet, was sie gesät haben.
So etwas von Wahlkampf hat die Welt noch nicht gesehen. Im Grunde gab es überhaupt nicht zwei Kandidaten, sondern nur einen: einen imperialistischen. Nur sagten die Hindenburg-Leute klar und offen heraus, was sie wollten: Menschen totschlagen, Gebiete erobern, gefürchtet sein, die alte Militärmacht wieder errichten. Vor der anderen Wahlbude standen Ausrufer, die riefen: »Hier noch die gute, echte deutsche Nationalrepublik! Gehen Sie nicht zur Konkurrenz! Sie bekommen hier alles genau so gut, genau so national, genau so durchgehalten – nur viel moderner verpackt!« Und die Kaufleute nickten. Daß man gegen Frankreich sein müsse, war ja ganz klar – aber soweit hatte der Patriotismus denn doch nicht zu gehen, daß die amerikanischen Anleihen darunter litten! Imperialismus? Gut. Aber nicht die Geschäfte stören.
Man muß die Wahlaufrufe, die Feuilletons, die Reden und die Flugblätter der Linken gelesen haben, um zu begreifen, warum so etwas nicht siegen konnte. Das floß über vor Bewunderung über den »erprobten Patrioten« Hindenburg, das drückte ihm seine Liebe und Verehrung, seinen Respekt und den genossenen Drill mit einer Wärme, mit einer so tiefen Hochachtung aus, mit solcher Unterordnung, daß man sich den Wähler nicht gut vorstellen kann, der nicht sagte: Ergo: wählen wir Hindenburg!
Es ist vielleicht besser so. Die Lage ist klar. Zum ersten Mal seit langen Jahren hat Deutschland eine politische Geste getan, die nicht verlogen ist. Man darf nicht vergessen, daß die Opposition gegen Hindenburg sich ja niemals gegen seinen Kern richtete, gegen sein Ethos, gegen seine Weltanschauung – sondern nur gegen seine Mittel. Die einen haben für das Beil gestimmt, die andern für die Guillotine – über die Anwendung der Todesstrafe selbst sind sich alle einig.
Die Republikaner aber haben keinen Grund, erstaunt zu sein.
Seit Jahren weicht das mutig zurück, seit Jahren traut sich kaum einer, das letzte Wort zu sagen, seit Jahren wird uns immer und immer wieder das einzige Wort entgegengehalten: Taktik. Nun ist für jeden Politiker[116] klar, daß man nicht nur mit radikalen Programmen in der Welt herumfuchteln kann und daß mit der Aufstellung der höchsten Ziele allein noch gar nichts getan ist. Aber das Verbrechen der Sozialdemokraten und leider auch vieler Pazifisten besteht darin, daß sie ihre Grundsätze willenlos hingegeben haben. Ich kann mir denken, daß einer nach Hause kommt und spricht: »Ich habe alle meine Prinzipien geopfert, ich habe Verrat begangen, ich bin um viele Ellen zurückgewichen – der tote Bebel würde sich im Grabe herumdrehen. Aber: ich habe dafür eingehandelt: den Achtstundentag, die Abschaffung der Wehrpflicht, eine Justizreform. Hier sind meine Erfolge. Es war nicht sehr schön, wie ich sie errungen habe. Aber hier sind meine Erfolge.«
Doch seine Prinzipien alle, alle bis zum letzten opfern, kein Haar am eigenen Programm unzerrissen lassen, kein Satz, den man nicht abgeschworen, keine Gelegenheit, wo man nicht gekniffen, keine Erniedrigung, die man nicht heruntergeschluckt hätte – alles, alles, alles hinzugeben und dann nichts dafür nach Hause zu bringen: das ist nicht Realpolitik, wie uns die geölten Herren erzählen wollen – das ist dumm und feige zugleich. Und unehrlich.
Denn letzten Endes ist ja dieser Mangel an Mut nicht so sehr parlamentarische Geschicklichkeit, wie uns diese Nicht-Politiker und Publizisten Vormachen wollen – es ist ja nur das sichere Symptom dafür, daß sich in diesen Kreisen eben nichts geändert hat, daß diese Leute insgesamt auch heute noch Kriegskreditbewilliger sind; daß ihnen angst und bange wird, wenn ihnen jemand vorwirft, sie seien nicht ›national‹; daß sie nicht den innern, den geistigen Mut finden zu antworten: »Nein. Wir sind selbstverständlich nicht national und wollen es auch gar nicht sein.« Sie sind es, und sind es immer gewesen.
Und sie sind unbelehrbar.
Von hundert parlamentarischen und journalistischen Niederlagen nach Hause geschickt, verprügelt, mit ausgefransten Hosen und verbeulten Hüten, gehöhnt, mit Bier begossen und von oben bis unten mit Spott bekleckert: so stehen sie da und sind Taktiker, Strategen, voll von den subtilaten Kniffen, die ihnen nicht über den kleinsten Rinnstein helfen. Da wollen wir sie stehen lassen.
An der Jugend aber ist es, sich neue Führer zu suchen und den alten nicht mehr zu glauben. (Weil man in Deutschland immer gleich dazu sagen muß, daß man keine Kandidatenrede hält, wenn man angreift, so wäre einiges hinzuzusetzen.) Die Jugend mag sich ihre Führer neu wählen und sieben, prüfen und bewähren lassen. Sie wird sie brauchen.
Bei dem, was jetzt kommt, wird sie Männer nötig haben, die unser Ethos in den Knochen haben, unsere Gesinnung, unsern Geist. Bei den unendlich schmutzigen Abenteuern, in denen der neue Provinznationalismus der dunkeln Herren die Nation stürzen wird, bilde sie das Gegengewicht. Sie sage die Wahrheit.
[117] Bei den Routiniers wird sie keine Hilfe haben. Die haben heute noch nicht eingesehen, warum sie den Kampf verloren haben. Die Jugend sage es ihnen:
»Weil sie niemals gewagt hat, das Einfache, das Selbstverständliche, das Menschliche zu tun. Weil sie nach dem Kriege den historischen Augenblick versäumt hat, wo man die über Kasernenhöfe und Moraststraßen geschleiften Proletarier und Handwerker mit der Erinnerung an dieses unnennbare Grauen, mit Bildern und Geschichten, mit Filmen und Theaterstücken aufrütteln, aufpeitschen, an den Knöpfen des verlausten Entlassungsanzuges packen mußte und ihnen zu sagen hatte: ›Eure Offiziere waren minderwertig, und sie konnten es sein, weil ihr alle nur danach gegiert habt, ebenso zu werden wie sie! Menschen zu schlachten ist eine maschinelle Schande, aber keine Heldentat. Ihr wart keine Helden. Ihr wart arme Luder.‹« Herr Scheidemann hat seine Genossen am Brandenburger Tor mit Fahnen und Wimpeln empfangen, aber davon hat er nichts gesagt. Er konnte es nicht sagen – denn er fühlte es nicht.
Seit sieben Jahren kein ehrliches Wort von den Oppositionsparteien. Seit sieben Jahren so wenig Pazifistengruppen in Berlin und nur einige im Reich, die radikal ihren Gedanken bis zu Ende denken. Seit sieben Jahren Rückzug, Rückzug, Rückzug. Und noch im polnischen Konflikt, der kommen wird, werden sie sich von keinem Hindenburg-Anhänger an Nationalismus übertreffen lassen.
Nicht wahr, ihr habt doch alles getan? Flugblätter und ›verständige Einwirkung‹ ›maßvolle und kulturelle‹ Propaganda gegen den tobenden Haufen der Totschläger, die immerhin eines erfaßt hatten: wie man auf Menschen wirkt. Die ununterbrochen, in den kleinsten Städten, in den Dörfern und in den Kaschemmen, gearbeitet und gepredigt haben, die sich nicht gescheut haben, auszusprechen, was sie fühlten, auch wenn es den andern nicht genehm war – die ihre Wahrheit gesagt haben. Deshalb haben sie – mit Recht – gesiegt.
Die andern sind, Schritt für Schritt, zurückgewichen, gut erzogen und bescheiden, unter dem Bart lächelnd, wie schlau sie und wie töricht doch die andern wären, bescheiden, gut erzogen, gebildet und schrecklich belesen. Und jetzt stehen sie in der letzten Hofecke, in die man sie gedrängt hat, gleich hinter der Küche und einigen andern Räumen, es duftet da nicht gut, nach vorn, wenn Besuch kommt, dürfen sie schon lange nicht, da stehen sie und ballen ein schwarz-rot-goldenes Schnupftuch in der Tasche und sehen sich an und sind erstaunt.
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