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[189] Der Sommer hat auf die französischen Bahnhofskioske einen Hagel von Anekdotenbüchern herunterprasseln lassen: Neuauflagen, Neuerscheinungen . . . Als da sind: ›T.S.V.P.‹ von Bienstock und Curnonsky (Crès, 21 rue Hautefeuille, Paris). Von denselben Autoren im selben Verlag ›Le Wagon des Fumeurs‹. – ›Joyeuses Anecdotes‹ von Max Frantel (Éditions Montaigne, Impasse de Conti 2, Paris VI). ›Histoires Marseillaises‹ gesammelt von Edouard Ramond (Les Éditions de France, 20 Avenue Rapp, Paris). Im selben Verlag ›Histoires Gasconnes‹ gesammelt von Edouard Dulac. – ›Histoires de Vacances‹ gesammelt von Léon Treich (Librairie Gallimard, 3 rue de Grenelle, Paris VI) – uff!
Der Titel des ersten Buches ›T.S.V.P.‹ ist gleichlautend mit der Inschrift an manchen Türknöpfen, an denen keine Klinken befestigt sind, und sie heißt ausgeschrieben: ›Tournez, s'il vous plaît!‹ Nun, da laßt uns einmal an diesem Knopf drehn.
Der französische Witz und die französischen Witze sind nicht immer gleichbedeutend. Er ist stärker als sie, denn der Witz im Bühnendialog, in der Salonunterhaltung, in dem ›mot‹, das selbst der kleine Mann häufig blitzschnell und mit der äußersten Schlagfertigkeit in den Straßenlärm wirft, dieser Witz wird nicht immer in Witzen aufgefangen.
Daher denn auch die französischen Witzblätter nicht grade zwerchfellerschütternd sind: das Niveau der eingegangenen ›Assiette au Beurre‹ ist bisher nie wieder erreicht worden, und man muß sich schon aus einem ganzen Wust von Scherzen die guten herauspicken. Das bezieht sich auf ›Le Rire‹, auf ›Canard Enchaîné‹, auf ›Le Merle Blanc‹, unterschiedlich an Wert, ungleich.
Die vorhin zitierten Sammlungen sind bedeutend besser, besonders ›T.S.V.P.‹ und ›Le Wagon des Fumeurs‹. Wie sehn nun die französischen Witze von heute aus?
Zunächst muß man oft genug den Hut abnehmen, weil da so viel alte Bekannte vorüberziehn. Für den noch stattlichen Rest ergibt sich für den fremden Leser das Hemmnis, daß er die sachlichen Voraussetzungen des Witzes nicht in Fleisch und Blut hat. Ein Witz, den man erst erklären muß, ist keiner mehr, und es genügt auch nicht, jene Voraussetzungen zu wissen – man muß sie fühlen.
Das Spezifische des französischen Witzes sind seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegrafenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: »Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern . . . « Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es[189] wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d'Orsay: »Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!« Die Sprache der Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: »Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!« Und so klingt in dieser Sprache vieles leiser und zarter als anderswo. Eine alte Dame empfängt den Besuch eines ihrer Freunde, der die vier Treppen zu ihrer Wohnung mit Mühe und Not heraufklettert. Noch pustend sagt er bei der Begrüßung: »Vier Treppen sind keine Kleinigkeit, gnädige Frau!« – »Lieber Freund«, sagt die Dame, »das ist das einzige Mittel, das ich noch habe, um bei den Männern Herzklopfen hervorzurufen! «
Diese Sprache hat die feinsten Zahnräder, mit denen sie alles ergreift, was ihr zu nahe kommt. Albumeintragung von Jean Cocteau: »Italiener und Deutsche lieben es, wenn Musik gemacht wird. Die Franzosen haben nichts dagegen.«
Und selbst der leichte Tadel bekommt eine liebenswürdige Melodie, wenn er so ausgesprochen wird, wie es jener Curé tat, der am Weihbecken seiner Kirche eine bis zur Grenze der Unmöglichkeit dekolletierte Dame antraf. »Wenn Sie nur zwei Finger hineintauchen wollen, gnädige Frau«, sagte er, »hätten Sie sich nicht auszuziehen brauchen!«
Selbst, wenn der Witz etwas delikat wird, bleibt er doch in dieser Form erträglich. Der Schaffner zum Reisenden, der aufgeregt auf der kleinen Station herumläuft: »Suchen Sie das Restaurant?« – »Nein, im Gegenteil«, sagt der Reisende.
Wie konzis diese Sprache manchmal eine verworrene Situation erhellt, zeige dieses Beispiel: Gespräch durch die Tür. Die Männerstimme: »Ist Herr Paul da?« Die Frauenstimme von drinnen: »Nein, er ist nicht da. Sie können nicht hereinkommen, ich liege im Bett.« Die Männerstimme: »Das schadet doch nichts; machen Sie doch ein bißchen auf.« Die Frauenstimme: »Aber das geht nicht – es ist schon jemand bei mir!«
Es gibt unter diesen französischen Witzen natürlich viele, die überhaupt nicht zu übersetzen sind. So zum Beispiel der Ausspruch jener betagten Frau, der man Vorwürfe wegen der allzu großen Einfachheit ihrer Toilette gemacht hat. »A mon âge on ne s'habille plus, on se couvre.« Oder jener bezaubernd schöne Ausspruch eines marseillei Malers: »Quand on a mangé de l'ail (Knoblauch), il ne faut parler qu'à la troisième personne.«
Ich sprach vorhin von den vielen alten Bekannten, die man in diesen Anekdotensammlungen antrifft: ›Der rechte Barbier‹ von Chamisso, der ja auch bei Hebel dem cholerischen Kunden um ein Barthaar den[190] Hals abgeschnitten hätte, ist da, und es gibt nicht nur Volkswitze, die durch alle Literaturen wandern, sondern sogar eine scheinbar sprachlich so begrenzte Geschichte, wie die von der telefonierenden Dame, die das Wort Fackel buchstabiert: »F wie Fioline, A wie Ankpir, C wie zum Beispiel . . . « selbst zu dieser Geschichte finden wir die französische Analogie. Es handelt sich um das Hotel de l'Ourcq. »Was für ein Hotel?« – »L'Ourcq! L'Ourcq!
O comme Auguste
U comme Ugène (Eugen)
R comme Ernest
C comme Serge
et Q comme toi.«
Nun ist ja der französische Witz für die ganze Welt stofflich abgestempelt, und hier muß ich zu meinem großen Bedauern etwas bremsen, denn in dem Augenblick, wo man diese gewagten Scherze übersetzt, vergröbern sie sich meist unerträglich. Eine kleine Geschichte aber habe ich gefunden, die ist auf Deutsch möglich. Frida, geh mal solange raus!
Große Hochzeit in der Madeleine zu Paris. Vor der Kirchentür die übliche Schar der Gaffer: Midinettes, kleine Angestellte, Straßenjungen, Neugierige aller Art. Der Hochzeitszug! Er: sehr feierlich, ernst, in bestem, allerbestem, aber schon aller-allerbestem Alter, offenbar sehr reich. Sie . . . allgemeines Ah! Eine entzückende kleine Brünette, sehr pikant, mit vollen Lippen, temperamentvoll, ein reizendes Kind. Der Zug hält einen Augenblick. Die Herrschaften werden fotografiert. Als sich das Brautpaar wieder in Bewegung setzt, löst sich das Brautbukett und fällt auf den Teppich. Eine kleine Midinette, die das bemerkt hat, stürzt gefällig hinzu, hebt die Blumen auf und übergibt sie der jungen Braut. Dabei kann sie sich nicht verkneifen, ganz schnell und ganz leise zu flüstern: »So viel Klimbim habe ich bei meiner Premiere nicht gemacht . . . « Die beiden sehen sich einen Augenblick an und sind einen Augenblick Kameradinnen. Dann flüstert die Braut zurück: »Ich auch nicht!«
Frida, du kannst wieder reinkommen. Nächstes Mal erzählt der Onkel weiter.
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