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[215] »Pas de Cannes!« Die Wachtsoldaten unten, am Eingang des Palais de Justice, lassen mich passieren, doch den Stock darf ich nicht mitnehmen. Action Française, ja – aber nicht mit Stöcken. Ob es hier eine Garderobe gäbe –? Tödliche Beleidigung. Ein Gerichtssaal ist doch kein Museum! Na, ich weiß nicht, mitunter . . . Also wandert Stock mit Besitzer zu einer kleinen Kneipe, der Stock wird da in Pension gegeben, bekommt den Auftrag, sich recht ruhig zu verhalten, sieht mir schmerzlich nach . . . hinein.
Um halb eins wird vor der 10. Kammer Herr Charles Maurras erscheinen,[215] der Mitstreiter und Leitartikler der ›Action Française‹, einer ihrer Begründer, Hauptträger, Fahnenschwinger. Er hat den französischen Minister des Innern mit dem Tode bedroht. Es ist halb zwölf – warten wir.
›L'Action Française‹ heißt in der Übertragung etwa: Deutscher Wille – hier wie da die Verwendung des geographischen Adjektivs als wertspendendes Beiwort, die tönende Vokabel, die patriotische Kesselpauke. Aber welch ein Unterschied!
Was bei uns, vom Barbiergehilfen Hitler bis hinunter zu den Professoren, Volkstum bumbert, hat mit Geistigkeit kaum etwas zu tun. Mit wenigen Ausnahmen arme Luder, schwach im Geist, voll Angst vor der fixem Konkurrenz der Romanen und Juden, die landfremden Elemente tretend und selber als landfremde Elemente frech, anmaßend, kriecherisch und vereinsbrödlerisch, wie es grade trifft. In allen Fällen: unlesbar.
Die ›Action Française‹, als Organ sechsundzwanzig Jahre, als politische Bewegung zwanzig Jahre alt, ist dem Ursprung nach eine durchaus geistige Sache, Vaugeois, Pujo, Maurras, der übrigens mit seinem Vatersnamen nicht so heißt, die Klerikalen und die Royalisten, die sich da, zum Teil schon in und während der Dreyfus-Affäre, vereinigten, sind Denker, Philosophen, ernsthafte Menschen, oder waren es doch zum mindesten. Sie bekannten sich von jeher offen gegen die Republik, sind ausgesprochene Legitimisten; mit der Kirche, die sie benutzt, aber nicht voll billigt, innigst verbunden.
Ihr Einfluß darf nicht unterschätzt werden, darf nicht überschätzt werden. Die Camelots du Roy sind heute nicht mehr die Herren der Straße, aber sie sind doch mächtig genug; das Feuer flammt unter der Asche des Kartells weiter, und an Geld mangelt es nicht: in langen Listen quittiert Daudets Blatt den Monseigneurs, Vicomtes, Marquis ansehnliche Beträge. Und es mögen noch ansehnlichere sein, über die es nicht quittiert. Dieser Daudet . . .
Eine seltsame Nummer. Ein dicker, kurzer Mann mit jüdischen Zügen, nach den Zertifikaten der Ärzte erblich belastet, vom Vater Alphonse her, der auf den letzten Fotografien jenen müden, zerbrochenen Ausdruck des Tabetikers zeigt. Der Sohn ein Talent, eine Mordsfresse in seinen Pamphleten, keinen guten Geruch um sich verbreitend. Lebt in und von Affären. Die letzte war der geheimnisvolle Tod seines Sohnes Philippe, dessen Sarg der Alte an alle Straßenecken malte. Liest man ihn, über ihn, von ihm, so wird man ein unbehagliches Gefühl nicht los. Es ist wie die Vorahnung eines Juckens, irgend etwas kriecht über die Haut, reizt die Härchen . . . kein angenehmes Fluidum. Die Zusammenhänge zwischen der Finanzpolitik des Blattes und seinen Überzeugungen sind etwas duster, der ganze Kerl immer in Ekstase, spionewitternd, weltuntergangprophezeiend, herumspektakelnd.[216] Ist jüngst bei der Wahl zum Senator durchgefallen. Einer seiner Feinde, André Gauché, hat den sehr gefährlichen Versuch unternommen, mit Hilfe der alleinseligmachenden Psychoanalyse den Sohn des kranken Alphonse zu einem Besessenen – ›L'Obsédé‹ heißt das Buch – zu stempeln; aus seinen Werken wird Zitat auf Zitat auseinandergehäkelt, durchgeschnüffelt, und seltsamerweise hat Sigmund Freud seinen päpstlichen Segen zu diesem bösen Tun gegeben, das deswegen völlig belanglos bleibt, weil es im Vorurteil unternommen wurde: das gewonnene Resultat sollte erreicht werden, und es wurde erreicht.
Also Daudet riecht nicht gut. Charles Maurras scheint persönlich anständig zu sein.
Ein Fanatiker. Ein Mann, dem alle politischen Morde, beginnend mit Jaurès, angekreidet werden, einer, der alle Überfälle nach rechts hin seinen Gegnern ebenso anrechnet, ein blutiges clearinghouse, die Rechnung wird wohl nie aufgehen. Ein Schriftsteller von Rang. Ein klarer Kopf. Ein überzeugungstreuer Mann. (Daran zweifelt man mitunter: es ist nicht denkbar, daß er sich alle persönlichen Anwürfe glaubt.) Ein Mann der graden Linie. Hat großen Einfluß auf viele junge Leute – nicht auf die französische Jugend überhaupt, aber auf einen nicht unerheblichen Teil. Schreibt, für ein paar hundert Francs im Monat, jeden Tag lange Riemen von Leitartikeln, die nie aufhören, und in denen Deutschland eine große Rolle spielt: die Rolle des Bubus.
Die Anschauung der ›Action Française‹ von Deutschland ist kindlich. Sieht man von der Prophezeiung der Präsidentschaft Hindenburgs ab, die das Blatt vor Jahren gegeben hat, so hat man den Eindruck, daß diese Männer ein Deutschland bekämpfen, das es nicht gibt. Nicht einmal das, was sie an sich rechtens gegen die deutschen Nationalisten und Offiziere vorbringen, stimmt. Alles ist romantisch, indianerbunt, merkwürdig primitiv – sie trauen ihrem Gegner zu viel und zu wenig zu. Zu viel: geheime Zusammenkünfte preußischer Offiziere in französischen Provinznestern und in Paris, wo die alten Generalstäbler die kommunistische Revolution säen sollen – zu wenig: sie kennen den neudeutschen, gefühllosen, skrupellosen Typus überhaupt nicht. Der ist kalt – das verstehen sie nicht. Der ist falsch kollektivistisch, hat sein Gewissen in der Garderobe abgegeben und schiebt die Verantwortung auf konstruierte Gebilde wie Staat, Regiment, Ministerium ab, feige und grausam zugleich. Von der wahren Gefahr, die Frankreich von Deutschland droht, ist in der ›Action Française‹ nichts zu lesen.
Jetzt hat sich die Vorhalle gefüllt. Etwa zwanzig Mann der Garde Républicaine sind erschienen – aber es war doch verboten, Stöcke mitzunehmen? Immerhin stehen da Leute mit Stöcken, gedrungene Gestalten, auch kleinere darunter. Es sind ›ces messieurs‹, wie sie[217] genannt werden, die Kriminalbeamten. Der Typus ist unverkennbar, und da stehen sie: etwas Lauerndes, Glitzerndes im Blick, etwas Hartes in der Hosentasche, die rotgestreifte Legitimationskarte und den Dienst am Herzen. Die Tür des Saales ist besetzt.
Ein Murmeln geht durch die Leute: Maurras. Fast alle grüßen. Er grüßt wieder, sehr höflich, und drückt auf eine komisch altmodische Art die Augen ein. Er ist ein kleinerer Mann, schmal, mit graumeliertem Backenbart, stark gelichtetes Haar, hinten eine Glatze. Er sieht aus wie ein Volksschullehrer, der Briefmarken sammelt, hat kleine, fast verkrüppelte Hände, einen kleinen Fuß, ist fast taub und hört nur, wenn sich der Redner ganz in sein Ohr kuschelt. Die Leute sehen ihn bewundernd an. Ein Mann der ›Action Française‹, mit dem ich mich lange unterhalte, sagt voll Ehrfurcht: »C'est un homme, ça –!« Das ist das allgemeine Gefühl.
Was hat er getan?
Am 9. Juni 1925 erschien in der ›Action Française‹ ein Offener Brief an Herrn Schrameck, den Minister des Innern, und darin stand etwa zu lesen: Sie wissen, daß die Befehle, die aus diesem Hause herausgehen, befolgt werden. Nun wohl: Ich befehle, daß in dem Augenblick, wo Sie unsre Freunde entwaffnen und den Kommunisten die Waffen lassen, gegen Sie Repressalien ergriffen werden, der schärfsten Art! Wörtlich: »Dieses Mal gebe ich die Weisung aus, den Gegenstoß gegen Sie zu führen. Es ist nur ein Mann vonnöten, der das Herz auf dem rechten Fleck hat – wir haben Tausende zu unsrer Verfügung. Ich gebe die Weisung, Ihr Hundeblut zu vergießen . . . « Man wundere sich nicht über den Dialekt – in der ›Action Française‹ wird statt mit dem Federhalter oft mit der Klosettbürste geschrieben. Daudetn seine ist die größte. (Manchmal malt er sogar lustige Figuren, Bonifacius Kiesewetter gleich, damit an die Wand. Von einem Gegner: »Man müßte ihn köpfen, wenn man damit nicht eingestünde, daß er einen Kopf hat.«) Also gut: Bedrohung mit dem Tode. Vor die Strafkammer.
Truppweise werden wir hereingelassen. ›Ces messieurs‹ sind schon drin – eine Kette Uniformierter schließt die hintere Bankreihe ab. Ausverkauft. Der Richter: ein gutmütiger dicker Vorsitzender, als Beisitzer eine nicht sehr gelungene Kopie Napoleons des Dritten sowie ein neutraler Mann. Die Arme sind aufgestützt, der Talar fällt leicht herab, zwei Manschettenpaare sind angewachsen, der dritte Mann trägt Röllchen. Im Saal Journalisten, Fotografen, Zuschauer: sie haben Vorkriegsgesichter – solche Gesichter sieht man bei uns nicht mehr. Bärte wallen, tiefe Ausgeglichenheit in allen Augen, 1912. Der dirigierende Wachtmeister sieht noch aus wie von Thöny, noch nicht wie von Grosz – nur wenn er feixt, wirkt er bitter.
Es beginnt.
Das französische Pressegesetz hat einen bösen Haken: vor der[218] Strafkammer gibt es in diesem Fall keinen Wahrheitsbeweis. Wohl aber vor den Geschworenen. Und man erlebt nun im Saal ein seltsames juristisches Schauspiel.
Maître de Roux liest mit dem ganzen Pathos eines ersten Heldenspielers aus der Provinz den Artikel noch einmal vor; noch einmal spritzt das Blut des Innenministers, noch einmal rollen die Drohungen. Die Richter hören unbeweglich zu. Dann lehnt der Anwalt den Gerichtshof ab und fordert das Schwurgericht.
Das hört sich sehr pathetisch an: Ich bin ein solcher Verbrecher, daß ich vor ein großes Forum gehöre! Und außerdem kann man da den Wahrheitsbeweis führen – was Wahrheitsbeweis! man kann auspacken, Briefe verlesen, Akten wälzen, Beschuldigungen vorbringen . . . Es wird nichts damit. Das Gericht lehnt den Antrag ab – Maurras hat den Brief nicht nur publiziert, sondern ihn auch dem Minister vorher mit der Post zugeschickt –: das Gericht erklärt sich für zuständig. Man tritt in die Verhandlung ein.
Welch ein Unterschied zu deutschen Strafkammern! Nichts von diesem albernen Getue, das sich bei uns erhebt, wenn ein geistiger Mensch vor Gericht steht. Hier wissen die Richter selbstverständlich, wer Charles Maurras ist. Hier wird nicht gespielt: »Sie sind also Schriftsteller – und da schreiben Sie so Artikel gegen Bezahlung, wie?« Hier zieht nicht dünkelhafte Ignoranz die Augenbrauen hoch, weil ein nichtbeamteter Bürger an den Maßnahmen eines Ministers Kritik zu üben wagt. Kein Zweifel, daß der Publizist das Recht hat, zu kämpfen – ob er sich strafbar gemacht hat, wird man ja sehen. Nicht diese Eiseskälte, die Ungehörigkeit, die sich als Würde gibt – ich besinne mich noch, wie vor Gericht so ein Stückchen Talar einmal zu George Grosz sagte: »Wenn Sie Kunstmaler sein wollen, dann müssen Sie doch . . . « Also hier geht es in den Formen anständig zu.
Während der Staatsanwalt plädiert, auf sehr strenge Bestrafung plädiert, haben Maurras und Pujo, der ihm nicht von der Seite geht, den Saal verlassen. Maurras hat fast gar nichts gesprochen; er saß erst, mit der Hand am Ohr, da und lauschte seinem Verteidiger, dann sagte er nur ein paar Sätze, ganz leise, fast unverständlich, mit dem ein wenig farblosen Tonfall der Schwerhörigen. Das Publikum paßt auf wie die Schießhunde.
Ein Alter ist da, mit riesig wallendem Haarwuchs und schütterm Bart – der hält in den Pausen eine große Rede zu seinem Nachbar, der geniert lächelnd nickt und den Alten, zu den andern gewendet, dauernd mit den Augen verrät: ich gehöre nicht zu diesem extravaganten Trottel . . . Hinter mir disputieren zwei junge Leute eifrig über die ›Action Française‹, über Frankreich, über ihre Zeit. Es ist stickheiß. Die Polizisten schwitzen. Kein unhöfliches Wort; sie unterhalten[219] sich mit dem Publikum, als sie merken, daß die Luft rein ist und es keine Manifestationen geben wird. Eine elegante junge Dame, die mit einem Advokaten hereingekommen ist, hört gepudert und gelangweilt zu, die müden Augendeckel sagen bei dem hallenden Pathos des Anwalts: Das ist hier so – da kann man nichts machen . . . Die weiten Ärmel des Talars flattern da vorn, Finger spreizen sich, übrigens glaubt man das alles nicht oder doch nur halb.
Unter den Journalisten sitzt der, der vorhin am Eingang festgestellt hat, ob durch die Polizei die Öffentlichkeit gehindert würde, in den Saal zu treten. Als man ihm selbst den Eintritt verweigert, sagt er schwer beleidigt: »Nur um zu sehen! Nur um zu sehen! Ich komme schon hinein!« und geht wieder. Er ist ein Anhänger dieser Leute. Zum erstenmal in Frankreich sehe ich das harte, kalte, glatte, seelenlose Gesicht aus dem deutschen Offizierskasino. Es muß in der Familie liegen.
Der Staatsanwalt. Der Verteidiger. Ganz unvermittelt und ohne Kunstpause sagt plötzlich der Vorsitzende: »A demain« – und dann ist es für heute aus, und alle gehen. Ces messieurs bekommen nichts zu tun.
Am nächsten Tag, als das Urteil gesprochen wird, ist Herr Maurras nicht mehr erschienen. Zwei Jahre Gefängnis, tausend Francs Geldstrafe. Es kostet in Frankreich etwas, einen Minister herauszufordern. In Deutschland hätte ers billiger haben können, denn für zwei Jahre Gefängnis und weniger kann man ihn da schon ermorden.
Herr Maurras wird appellieren. Wer weiß, ob und wann er seine Strafe verbüßen wird.
Und mir bleibt eine Erinnerung haften.
Vor mir ging am ersten Tag ein junger Mensch hinaus, er mochte etwa vierundzwanzig Jahre alt sein. Aber er hatte sich – der Würde wegen – einen Vollbart stehen lassen, einen dunkelbraunen Vollbart. Und dieses junge, weiche Gesicht mit dem Bart . . . Man war versucht, auf ihn zuzutreten und an dem Bart einmal zu zupfen, um zu sehen, ob er auch angewachsen wäre. Aber sicherlich war er angewachsen. Der Kerl trug einen echten geklebten Bart.
Und so sieht denn auch der Faschismus in Frankreich aus.
So sähe er aus, wenn nicht neben Verbrechern, Rohlingen, Totschlägern, Rowdys und Léon Daudet das heiße Bemühen in der ›Action Française‹ und besonders in Maurras flammte, gegen die Zeit das zu suchen, was sie die Wahrheit nennen. Diese Leute haben einmal isoliert gestanden, völlig allein – so allein, wie Harden dreißig Jahre in Deutschland, mit dem ganzen Mut, mit der Zivilcourage, nein zu sagen, auch gegen die Festdiners. Diese Jugend hat ekelhafte Roheiten begangen, feige Überfälle, ist auf Phrasen hereingeplumpst . . . Aber wer ihr zuallerletzt etwas erzählen darf, ist der[220] ›fortschrittliche‹ Opportunismus, jene Auchsozialisten, jene liberalen Kulturbesitzer, die, zu faul, das Bestehende zu ändern, zu beteiligt an allem, nicht den leisesten Anlaß haben, mit vornehmen Gesten Radikalimus abzulehnen. Organisierter Schmutz ist noch keine Reinheit, historische Ungerechtigkeit keine Ordnung. Das Gewäsch der Scheindemokraten gegen den Faschismus ist Angst. Er verdiente kräftigere Gegner.
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