[366] Romeo aus dem Hause Montague liebt Julia aus dem Hause Capulet, heimlich, nur des Morgens früh, denn diese Julia ist eine junge Witwe. Streit und Versöhnung. Der oberste Capulet ist drauf und dran, die Montagues endgültig zu verderben, schon sitzen sie in seinem Ministerzimmer vor ihm, da erscheint Julia, sie hat die belastenden Akten vernichtet, sie bricht nach dem Geständnis zusammen und stirbt an innerer Verblutung.
Das ist der Inhalt des neuen Buches ›Bella‹ von Jean Giraudoux (Bernard Grasset, 61 rue des Saints-Pères, Paris). Die italienischen feindlichen Häuser heißen hier Dubardeau und Rebendart, aber in Wahrheit heißen sie ganz anders. Das Buch ist ein Schlüsselroman.
Mit den Schlüsselromanen ist es wie mit der Bearbeitung historischer Stoffe: der Autor verdankt einen Teil der Wirkung einer Sache, die außerhalb seiner selbst liegt. Sagt er »Königin Luise«, so ist die Hälfte der Arbeit schon getan; eine »Frau von Müller« hätte er erst zu erschaffen. Ein Porträtmaler, der spricht: »Sie hätten ihn kennen sollen, den ich da gemalt habe!« – ist ein schlechter Maler. Er soll ihn mir ja gerade erst näherbringen. Das Buch von Giraudoux wäre aber auch ohne Benutzung lebender Personen ein starkes und gutes Buch. Die lebenden Personen heißen: Berthelot und Poincaré.
Giraudoux, der französische Pressechef im Ministerium des Auswärtigen, hat Wahrheit und Dichtung gemischt, also etwa ein ähnliches Verfahren, wie es Heinrich Mann im ›Kopf‹ angewendet hat. Dichtung ist hier zum Teil wahrscheinlich die Liebesgeschichte, Wahrheit die Familien der Berthelots und der Poincarés.
Berthelots sind die Guten, die Weißen. Diese Familie, die der französischen Politik, der Wissenschaft Frankreichs so viel Menschen und Werke gegeben hat, erscheint hier in ihren Spitzen: Daniel, der Mediziner, Philippe, der Politiker, René, der Philosoph – und ihr intimstes Leben. An ihnen ist kein Fehl und Tadel. Das erzählende ›Ich‹ gehört dieser Familie an.
Poincarés sind schwarz, sie schillern in allen Nuancen des schwärzesten Schwarz, mit Ruß ist dieses Bild gemalt. Gerecht –? Der Erzähler ist Partei.
Ihm erscheint Poincaré kalt, steinern, voll von beschränktester Selbstgerechtigkeit, der Gott der Korrektheit. Nach Jahren des Irrtums, des künstlich entfachten, fabrizierten Hasses, der zweitdümmsten Politik[366] Europas, schlägt das französische Pendel zurück: der französische, individualistische Mensch spricht wieder laut und vernehmbar zur Welt (er war immer am Leben, auch im Kriege; es darf nie vergessen werden, daß Henri Barbusse hier im Jahre 1917 den Goncourt-Preis für ›L'Enfer‹ erhalten hat).
Es ist der Poincaré jener berüchtigten Denkmalsreden, die allsonntäglich auf Frankreich herunterprasselten; der strenge, unerbittliche, nationalistische, geistig und leiblich stets verstopfte Poincarés, der aus seiner Familie heraus erklärt wird. Außerordentlich fein und bösartig, wie die Poincarés in zwei Zweige aufgeteilt werden: in die Korrekten und die Tunichtguts, die ein wenig liederlich sind, saufen, es zu nichts bringen – aber dafür auch ihren Landbezirk nicht verlassen dürfen. Die Rechtschaffenen verhindern es. Und es wird sogar behauptet, die Leiden, die der mindere Zweig der Familie im besetzten Gebiet von den Deutschen hätte erdulden müssen, wären vom obersten Poincaré zur patriotischen Propaganda ausgenutzt worden; dazu seien sie ihm gut genug gewesen . . . Einmal trifft Giraudoux den Typus ins Herz, und ich glaube, an dieser Stelle hat er ihn völlig richtig, ohne Voreingenommenheit charakterisiert; das ist da, wo er sagt, der Advokat sei es gewesen, der regiert hat, der Rechtsanwalt, der ein vollstreckbares Urteil erlangt habe, und der nun auf Zahlung dringe. »Ein Erbschaftsstreit.« Das ist es. Dieser unermüdliche Aktenarbeiter bewegte sich im luftleeren Raum; er hatte theoretisch völlig recht und praktisch gar nicht, weil ein großes Land keine Partei in einem Zivilverfahren ist und weil – weitaus schwerwiegender – Frankreich mangels Unterstützung nicht vollstrecken konnte. Nie war ein Realpolitiker ideologischer.
Sonst kommt Poincaré so böse weg wie die Berthelots gut. Diese Schwarz-Weiß-Technik geht bis in die kleinsten Kleinigkeiten: bis in die Äußerlichkeiten des Daseins. Hier habe ich ein wenig gestockt. Auch wäre noch rasch zu vermerken, daß die Komposition des Buches wenig straff ist; Giraudoux erzählt: von den beiden feindlichen Familien, von der Liebe des jungen Berthelot zu Bella, der Schwiegermutter Poincarés, vom Vater Bellas und seinen merkwürdigen Schicksalen . . . und das ist aufgelöst in eine Unzahl kleiner und kleinster Züge, Analysis auf Analysis, die Synthese mag sich der Leser selbst machen.
Die Analysen freilich sind ersten Ranges.
Sie sind so gut, daß ich nicht weiß, ob das Buch ins Deutsche übertragbar sein wird. Es ist nicht nur der Stil, der einer Übersetzung die größten Schwierigkeiten in den Weg legt, diese graziös verwickelte Logik, die stilisierte Geometrie – es fehlt vor allem in Deutschland eine Gesellschaftsschicht, die diesen Politikern, diesen Familien entspricht. Die alten Familien in Deutschland sind so ganz anders geartet und haben mit diesen kaum etwas gemein. Aus der Fülle der bezaubernden Einzelheiten seien einige herausgegriffen.
[367] Die Moderne steht, was, das Schicksal der Menschen betrifft, der Antike nicht nach, wird gesagt. »Für die Eltern der Schlaganfall – für die Söhne die Fliegerei: wir sind gar nicht so schlecht daran.« – Von den Bankiers: »Dem Kapital näherten sie sich wie im Ornat. Sie hatten die Bärte von Popen und die Hände von Prälaten; wenn sich die Leitung der Fabrik zusammensetzte, erinnerte nichts mehr an einen Aufsichtsrat. Auf das Gold warfen sie einen rituellen Blick: Kapitalserhöhung bedeutete erhöhten Glanz ihres Gottes und ihrer Heiligkeit, und nur der Kassierer, der das Geld so niedrig einschätzte, wie es das verdiente, ging Sonnabend nachmittags auf Rennen.« – ›Moïse‹ ist da, ein pariser Finanzmann, außer dem Sekretär Poincarés die schönste Figur des Buches. Der Mann ist Witwer, und seine Frau hat ein herrliches Erbbegräbnis. Er geht an jedem Jahrestag ihres Todes hin, sie zu besuchen, »er öffnete das Türschloß ihres Grabes mit demselben Kennwort, das er für seinen Safe benutzte . . . « Dann schließt er sich dort ein. »Freunde von ihm behaupteten, er erzähle der Verstorbenen laut, was sich im vergangenen Monat ereignet hätte, und Lauscher, das Ohr an den durchbrochenen Eisenblumen des Marmor-Safes, hätten schon versucht, auf diese Weise etwas über die Bewegung auf dem Valutenmarkt zu erfahren.« – Eine kleine Schilderung der Liebesmorgen zwischen dem Erzähler und Bella ist da, die zu dem Duftigsten gehört, das seit langem in französischer Sprache zu lesen war – sie treffen sich des Morgens früh, die Stadt ist frisch, noch haben sie mit keinem gesprochen, es sind die primeurs des Tages, die sie pflücken. – Und später, während des Zerwürfnisses, als der Liebende Bella im Klub trifft, durch Tische sind sie voneinander getrennt, wie da die lächerliche gleichzeitige Bestellung von Kaffee beide eint – das ist meisterhaft. Die Herren aus dem Automobilklub, die sie wieder zusammenbringen wollen, werden anläßlich eines kleinen Automobilunfalls, dem ein Hund zum Opfer fällt, so charakterisiert: »Vor lauter Eifer, Bella bei den Dubardeau (der ihr feindlichen Familie) einzuführen, entdeckten sie sogar in ihren Taschen ein Stückchen Zucker, das der Hund zu lecken begann, aber bald ließ er es sein, denn er schmeckte etwas Bitteres, und er fragte sich, warum sich Menschen damit amüsieren, verwundeten Hunden Salz zu geben . . . « Von solchen Zügen wimmelt das Buch.
Noch mehr von andern, die die großen Familien bis ins letzte malen, und hier liegt für den deutschen Leser die Schwierigkeit. Haben wir in der Politik kultivierte Leute, für die der Fluß der Hauptstadt, weil sie ihr Gut an seiner Quelle haben, immer ein schattiger Bach bleibt, aus dem die Kuhherden trinken? Haben wir so nuancierte Gesellschaftsbegriffe, die mit unendlich feinen Unterschieden arbeiten, mit den winzigsten Ausschlägen des sozialen Kompasses? Ich denke: nein.
[368] Aber wir haben freilich so etwas wie den Sekretär Poincarés, eine himmlische Zeichnung von Echtheit, boshafter Beobachtung, Schärfe – diese liebliche Blüte ist völlig entblättert. Aus dem Wurm in ›Kabale und Liebe‹ ist ein Drache geworden, der Tinte speit. (Mit der vorzüglichen Beobachtung: der Chef schiebt ihm die häßlichen Frauen zu, die langweiligen Professoren, die leeren Generale; alles, was er nicht empfangen will, schiebt er dem da zu. Nur mit diesen hat er nähern Umgang, neben diese wird er bei Tisch gesetzt. »Infolgedessen hielt er sich für schön, unabhängig und unbestechlich.«)
Wie ein schwarzer Schatten geistert Poincaré durch das Buch. Es bleibt kein gutes Haar an ihm. Seine Advokatenkorrektheit, dieser andere Teil des französischen Geistes, ist eben diesem verhaßt, es gibt keine Lächerlichkeit, die ihm nicht zugeschrieben wird. Nichts wäre übrigens verkehrter, als das in deutschem nationalistischem Sinne auszunutzen, so hats Giraudoux nicht gemeint, und wenn einer gegen Mussolini ist, so ist er noch lange nicht für Ludendorff.
›Bella‹ wird eine Fortsetzung bekommen; ›Bellita‹, es ist ihre Zwillingsschwester. Und ich habe noch nicht einmal den ganzen Inhalt des Buches erschöpft, nichts vom Vater der Zwillinge gesagt, der Unglück mit seinem Sohn hat und der den Band mit einem unübersetzbaren Dialog beschließt. Ich nehme von Giraudoux Abschied, mit einem Gruß und leicht befangen; denn wenn ich nun die Türklinke ergreife und hinausgehe, wird sein Auge mit einem einzigen Blick den Besucher zusammenfassen und alles erkennen: die ungeschickte Bewegung beim Aufstehen, Krawatte, Hut und Charakter.
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro