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[332] Das pariser Theater ist keine sehr erfreuliche Sache, und man mag sich hundertmal vorbeten: Die Nuance – es kommt auf die Nuance an!, so bleibt doch zum Schluß als dominierender Baß der altindische Spruch brummend stehen: »Eure Sorgen möcht ich haben!« Ich weiß, daß viel aus dieser Literatur übersetzt wird, und daß ganze Geschäfte davon leben. Aber diese Erfolge beruhen doch größtenteils auf Mißverständnissen, die beweisen, daß andre Stücke noch unbrauchbarer sein müssen. Da wird vom Übersetzer und von den Schauspielern die Fabel ernst genommen, diese Fabel, die dem französischen Autor ja nur als Vorwand gedient hat, Sprache, Ironie und Kulturbildchen aufglitzern zu lassen. Die Handlung – was ist ihm die Handlung! Dazu kommt, daß das meiste überhaupt nicht übersetzbar ist. Was fängt um Gottes willen Berlin mit einem Stück wie ›Les Nouveaux Messieurs‹ an? Es beginnt damit, daß es den Titel mit ›Die neuen Herren‹ übersetzt, während etwa ›Die neuen Herrschaften‹ gemeint sind, ›Die neue Schicht‹ oder so etwas – und ich frage mich immer wieder, wie man das verstehen zu können glaubt, wo auch nicht eine der Voraussetzungen dieses Stückes gegeben sind. Ich spreche nicht von den persönlichen Anspielungen, sondern von dem Boden, auf dem diese Pflanzen wachsen. Treibhaustheater.
Weil die ernsten Stücke in Paris, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, langweilig, kindlich, zurückgeblieben, aus Geschäftsgründen geschrieben, leer sind – deshalb wendet sich der Gast mit Grausen gern zum Varieté, zur kleinen Revue und auch einmal zu einer großen. Zur großen dann, wenn Chevalier spielt. Im Casino de Paris spielt er.
Um ihn herum jene Mädchen, von denen ›Comoedia‹ für 1926 prophezeit hat, sie würden demnächst ohne Haut auftreten, archi-nues. Sie müssen das Wort nicht mißverstehen. Aber dann tritt ER auf, und dann ist alles ganz anders.
Seltsam: der Mann ist im Coupletvortrag durchaus zweiten Ranges, seine Gesangsstimme ist eher heiser denn schön – also was ist es? Es ist nicht nur der Tanz. Gewiß: er hat die schlaksigsten Beine, die man sich denken kann, sie sitzen locker und lose in den Gelenken, und wenn er, im silbergrauen Zylinder, im silbergrauen Frack, in silbergrauen[332] Schuhen eine Reihe Girls kommandiert, sieht das schon anders aus, als wenn Herr Kutzner dergleichen vollführt. Nein, es ist noch etwas.
Der Bursche ist sympathisch. Man mag ihn gern. Alles grinst, wenn er kommt, auch die Männer. Denn die Frauen sind durchaus für ihn, fühlen sich sicher in so viel Frechheit und wenn die blauen Augen in den Zuschauerraum sehen und sich eine kesse Unterlippe vorschiebt, dann ists richtig. Er spielt, und die Bühne ist voll von dem, was so wenige Schauspieler haben: von einer Aura, von Charme, von einer Persönlichkeit. Diesmal hat er zwei Höhepunkte.
Einmal steht er mit seiner Partnerin Yvonne Vallée, die ohne ihn nicht vorhanden, aber mit ihm reizend ist, als Bauernpaar vor zwei Häuschen. ›Quand on est deux‹, steht über dem Hoftor, in Abwandlung eines pariser Operetten-Refrains »Quand on est trois« – und der Hund hat sich über seine Hütte geschrieben: ›Quand on est un‹, das arme Tier. Und nun erhebt sich die schwere Frage: »Savez-vous planter les choux –?« Denn die kleinen Franzosen werden nicht vom Storch gebracht, sondern, wie schon aus einer Novelle Maupassants ersichtlich, unter einem Kohlkopf aufgefunden . . . (Maupassant läßt im Coupé eine Dame ein plötzliches Eisenbahnkind bekommen, und der Erzieher der beiden anwesenden Knaben heißt seine Zöglinge zum Fenster hinaussehen. Auf der Station sagt der Jüngere mit boshaftem Lächeln, ganz leise: »Ich – ich habe den Kohlkopf gesehn . . . « Aber das gehört nicht hierher.) Ja, also das ist die Frage:
Savez-vous planter les choux
A la mode – à la mode –
Savez-vous planter les choux
A la mode de chez nous?
Nein und große Verlegenheit.
Je ne le sais pas du tout,
Voyez-vous, du tout, voyez-vous
Je n'sais pas planter les choux
A la mode de chez nous . . .
Wat nu –?
Es erscheinen nacheinander eine Bäckerin, ein Bauer – aber die Antworten befriedigen nicht, denn seit wann pflanzt man Kohl mit dem Finger? Worauf Chevalier in eine Loge fragt, und die dortige Dame pflaumt ihn an, und schließlich erscheint die preisgekrönte Tugendjungfrau des Dorfes. Die sagts.
On les plante avec le . . .
voyez-vous, le . . .
voyez-vous, voyez-vous –[333]
und das ist ja schließlich auch eine Antwort. Herr und Frau Chevalier ziehen sich, mit ihren rotgepunkteten Schürzen, befriedigt in das Bauernhaus zurück, der neubelehrte Liebesgärtner schließt von innen die grünen Fensterläden. ›Wegen Heirat geschlossen‹ steht drauf – und nach zwei Minuten erscheinen zwei ausgewachsene Kohlkinder, die junge Mutter achtern, und dann: er. Er sieht ins Parkett, deutet auf die eben hergestellten Kinder, klopft sich auf die Brust: »Von mir –!« und macht eine derart rüde Bewegung, daß die vielleicht noch Wegener wagen dürfte, aber sonst niemand. Und man möchte sich das dreimal vorspielen lassen.
Und dann hat er noch ein Couplet: ›Valentine‹.
Elle
avait
de tout petits petons –
Valentine – Valentine –
und das Lied dieser Dame mit den kleinen Füßchen ist weiter nichts Bedeutendes. Aber zum Schluß fragt er die Leute: »Wie soll ich den Refrain jetzt singen?« und sie rufen ihm zu (Falle): »Auf englisch!«, »Auf patriotisch« – und auf patriotisch ist es besonders schön; er stellt sich hin wie ein Denkmal – »On voit tout un peuple glorieux, ce-pas?« – und donnert, als Männergesangverein:
Elle
avait
de tout petits petons –
Valentine –!
und zwischendurch trifft ihn die feindliche Kugel, die Fahnen knattern, und es fehlt nur noch etwas bengalische Beleuchtung, um einen Aktschluß zu haben, wie er in Schöneberg so üblich ist. Und wie diskret wird das alles gemacht! Nie singt er den ganzen Refrain zu Ende, er spielt die Idee, auf englisch, auf jiddisch niemals durch – und das Prachtstück liegt zum Schluß, wenn er sich den Hut schief aufsetzt und einen pariser Luden vormacht. Er hat da einen Schritt auf der Straße aufgefangen, jenen Schritt des die Straßen entlangfegenden ›mec‹, der, fast achtlos, alles sieht, sämtliche Damen des quartier kennt und hier und da in der Eile des Spaziergangs vom Damm aufs Trottoir und vom Trottoir auf den Damm hippelt – dieser Hupfer ist so echt, daß die acht Franzosen, die im Theater waren, aus dem »C'est épatant!« gar nicht herauskamen. Es gibt in Berlin wenige Künstler, die so berlinern können, wie der hier parisert. Die Leute klatschten den ganzen kleinen Zwischenakt hindurch.[334]
Und weil er eben französisch ist, bis ins Mark französisch, so schien es mir ein gewaltiger Fehler, ihn mit den Dolly Sisters, diesen vom Klatsch angenehm umwehten Damen (sind sie nicht mit dem englischen Königshaus leicht verwandt?) – mit ihnen also einen langen englischen Song tanzen zu lassen. Ah – nein. Das macht jeder Angelsachse besser, und es ist verwunderlich: warum zwingen eigentlich die Amerikaner die ganze Welt, so zu sein und Theater zu spielen und zu fußballern wie sie? Dazu reist man doch nicht. Ist die Welt noch nicht genug mechanisiert? Kaum aber sind sie eine halbe Stunde von New York fort, so bekommen sie Heimweh und fühlen sich im fremden Lande erst richtig wieder wohl, wenn da vorn die Mädchen und die Knaben »Sweetheart!« zwitschern. ›Pavillon Mascotte‹ in der Behrenstraße und Chevalier auf englisch – ich habe das nicht gern.
Nun, Herr Chevalier ist umrahmt von Gleichgültigem, Langweiligem und Farbenzusammenstellungen für den Geschmack eines südamerikanischen Mädchenhändlers – wir wollen uns da nichts vormachen. Die kleinen Revuen aber sind schon besser. Zum Beispiel die von Rip, im Théâtre du Palais-Royal!
Rip, ›notre maître à tous‹, wie ihn die Kollegenschaft nennt, und mit Recht, Rip hat leider eine kleine Revuefabrik und liefert alle Größen und alle Sorten. Dies hier ist von der harmlosem, und die himmlischen Ideen sind recht dünn ausgeführt. Eine Szene, wo die französischen Schriftsteller als Damen auftreten, könnte reizend sein – man denke sich: die Fräulein Mann, Waldine Bonsels, Hermine Keyserling, Thusnelda Bartels und Emilie Ludwig –; aber das ist alles Tanz von Chormädchen geblieben. Schade. Einer tritt in der Maske Rips auf und wird mächtig belacht, denn so sieht er wirklich aus. Einer will schon mit zwölf Jahren in die Académie, damit die nicht überaltere, und sagt in der Bendow-Weis' herrliche Vierzeiler auf, denen er nachher Dramentitel gibt – und das alles wäre nichts als nett, wenn Marguerite Pierry nicht dabei wäre.
Sie ist die wahre Muse Rips: sie zeigt die Zähne, um zu lächeln – und Gussy Holl möge mir verzeihen: ich habe mich ein Häppchen verliebt. Die Dame Pierry ist nicht mehr jung und nicht sehr schön, und sie kann auch nicht übermäßig viel – aber sie hats. Wenn sie, als Vogelscheuche aufgetan, eine pariser Portierfrau nachmacht, die det Kino kennt, Sie! bei uns wohnt Jannings im Haus! mir kenn Sie doch nischt assehln! – und wenn sie tanzt und hopst und mit ihren großen Augen herumguckt: das ist nun zum Entzücken gar. In einer Szene mit ihrem ami de cœur löst sie – was sollten sie auch sonst tun? – Kreuzworträtsel, und weil eine Reihe bedeutet: »Was Frauen in der Umarmung sagen«, gehen sie es ausprobieren, es geht ja ganz schnell. Inzwischen kommt der racheschnaubende Mann mit Revolver, hört hinter der Szene ein ihm wohlbekanntes Gekreisch, sieht aber das[335] Kreuzworträtsel, vergißt Rache und Frau und Freund und löst gleichfalls. Pierry kommt heraus, in Pyjama, welch eine Dünnität! und hats gefunden: »Aaah –!« sagen die Frauen. Gott schenke allen Schauspielerinnen diese Leichtigkeit, solche kleinen Ferkeleien zu sagen.
Nun, ich überschätze dergleichen Abende gewiß nicht. Es gibt auch in Paris Cabarets, wo es häßlich reaktionär und albern zugeht – so die ganz unmögliche Lune Rousse, ein böser Laden, in dem kleinbürgerlich gepatzt wird –, es gibt gleichgültige Unternehmungen, und sehr modern sind sie alle zusammen nicht. Aber es sind doch sie, die am lustigsten im pariser Kunstleben sind, am spritzigsten, am amüsantesten, Chevalier, Rip und die andern.
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