[488] In jedem Lande fängt zur Zeit eine junge Generation völlig von vorn an. Dabei bleibts gewöhnlich. Immerhin soll man sich um jeden ernsthaften Versuch kümmern; wir habens nötig. Wenn ich ein französisches Beispiel wähle, so geschieht das nicht nur, weil ich grade in diesem Lande lebe – in Deutschland wirds einem verdammt schwer gemacht, sich mit dergleichen zu befassen. Die Wertvollsten und Anständigsten der jungen Leute schweigen oder sprechen sich in Konventikeln aus, woraus sie schwer zu lösen und zu erlösen sind, und von der ›jungen Generation‹, die sich schmockig fotografieren läßt – im Hintergrund das tiefe schmerzliche Wissen um die letzten Dinge –, von diesen uralten Journalisten um einundzwanzig herum wollen wir uns nicht weiter unterhalten. Es ist eine Familienangelegenheit.
›L'Esprit‹, 1. Heft (erschienen bei F. Rieder in Paris, 7 Place Saint-Sulpice).
Es ist eine Gruppe junger französischer Philosophen, die sich da zusammengetan haben; sie setzen eine begonnene Arbeit fort. Dieser Beginn hieß: ›Philosophies‹, eine kleine Zeitschrift, die sich für Rußland[488] gegen die französische Kolonialpolitik aussprach und plötzlich zu erscheinen aufhörte; wer daran schuld war, soll hier nicht untersucht werden. Das vorliegende Heft scheint mir in seiner Unvollkommenheit lesenswert, grade deshalb – selten bringen Verleger den Mut auf, solchen Anfängen ans Licht zu helfen.
Bemerkenswert erscheint mir, der ich mich keinesfalls legitimiert glaube, den Windungen dieser philosophischen Straßen überallhin zu folgen, ein guter allgemein einleitender Aufsatz Pollitzers: ›Introduction‹; dieser junge Mensch hat Schelling ins Französische übersetzt, und er ist es wohl auch, dem die Gruppe ihre Neigung zu Hegel verdankt. In der Einleitung stehen gute, jugendliche Sätze wie der hier: »Die Philosophen ohne Substanz sind immer zu tief, viel zu tief, um wahr zu sein – und durch ihre übergroße Tiefe schießen sie über das Ziel hinaus, um nicht an den Grundlagen des Staates zu rütteln.« Der Aufsatz, der eine merkwürdige Verbindung französischer Philosopheme und deutscher Denker darstellt, zeigt, was die Gruppe ablehnt, stellt sich zwischen Scholastik und Revolution, wendet sich mit Recht gegen jene, denen keine Demonstration genügt, gegen die Nieüberzeugten, die Nie-zu-Überzeugenden und kündigt Positives erst an.
Das Heft enthält ferner einen Abschnitt aus Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ – wie muß die französische Sprache gestöhnt haben, als man ihr das zumutete! Den Beschluß macht das Haupt der Gruppe: Pierre Morhange, ein tapferer, sauberer und unendlich fleißiger junger Mensch, der schon viele Leute hat aufhorchen machen. Ich bekenne, von seinem Aufsatz ›La Présence‹ kein Wort verstanden zu haben, und will gern die Schuld auf mich nehmen: sei es, daß mir die nötige Vorbildung mangelt, dergleichen zu verstehen, sei es, daß ich nicht lesen kann – genug, ich kann darüber nichts aussagen.
Am wirklichkeitnahesten scheint mir eine sehr interessante Arbeit zu sein: ›Ils ont perdu in partie éternelle d'euxmêmes‹. Da weiß man, wo und wie, und liest alles von Anfang bis zu Ende. Wie dieses Ende aussieht?
Der Verfasser – Georges-Philippe Friedmann – nimmt auf etwa fünfzig Seiten zunächst ein höchst erfreuliches Schlachten vor. Da lacht einem das Herz im Leibe. »Schaum, Schaum ist alles, was ich berühre . . . « Schaum die Wirtschaft, die Philosophie, Schaum die Afterreligionen, die keine mehr sind. »Das asketische und mystische Ideal des Christentums ist keinesfalls Sieger. Im Gegenteil. Sicherlich: die Menschen leben nicht für das Jenseits. Ob sie ungläubig oder Namenschristen sind (wie so viele Christen): sie glauben nicht an das Reich Gottes, aber sie leben wiederum auch nicht mehr im Diesseits; denn unfähig . . . das Leben der ratio zu leben, begeben sie sich in eine Welt hinauf, die sie sich erst hergestellt haben.« Das ist gut – hier scheint mir der Angelpunkt der neuen Metaphysik zu liegen, jenes faulen[489] Religionsersatzes, der selbstverständlich keineswegs ausreicht. Kolonialreichs Ende, das neue Asien, zwei Völker, die jung geblieben sind: Rußland und Italien – dann die große Totenklage um das Weltbild, das nicht da ist.
Wir kennen diese Klage – wer nicht Katholik ist, hat sie in Europa erhoben, erheben müssen –: sie irren und suchen und finden nicht.
Sehr gute Hiebe gegen die falsche ›Objektivität‹ der Gelehrten, eine gradezu vorzügliche Abhandlung gegen einen Typus, den Friedmann »le disponible« nennt, jenen, der es alles in sich aufsaugt, dessen Seele für alles wahllos offensteht, der keine Partei nimmt, und der schrecklich stolz ist auf das, was hier mit Recht als Schwäche entlarvt wird . . . diese kleine Skizze: ›Esquisse d'un type de jeune Disponible‹ ist beste französische Machart – und daneben und dazwischen höchst erfreuliche Schläge auf alles, was da behutsam kreucht und zu fliegen versucht. Paul Valéry bekommt es nicht schlecht ab, auch er ein ›Disponible‹, Proust zu dem Teil, wie ers verdient – hierbei eine schöne Bemerkung: es gäbe keine starken Unberührten, eingekapselt in der angeblich so festen Hülle des Individuums – »ils sont les grands complices de l'être«.
Und –?
Und dann wirds dünn. Dann kommt ein kleines positives Endchen, das kümmerlich hinten dran baumelt: Spinoza war ein großer Philosoph. Sicherlich, das war er, wer wüßte es nicht. Aber erlöst mich das? Bringt mich das fort? Hilft mir das aus meinen Zweifeln?
Ich möchte diesem saubern und klaren Versuch, unternommen mit allen Mitteln einer Jugend, die etwas will, ohne vielleicht ganz genau zu wissen, was sie will – ich möchte ihm nicht das Unrecht antun, dergleichen etwa mit den schöngeistigen Gesellschaftsspielen unsrer süddeutschen Universitäten wie Heidelberg oder Göttingen zu vergleichen, wo die Eingeweihten von sich und untereinander sprechen wie Mönche aller Grade – mit heiligen Äbten und je einem Papst, der immer des Kaisers neue Kleider trägt –: damit hat das hier nichts zu tun. Aber was nützt dies alles?
Es wäre nicht gerecht, zu sagen, daß etwa Friedmanns Arbeit nichts sei als nur eine verkappte Literaturkritik, in der nun alle, alle ihr Sprüchlein abbekommen – mehr ist sie bestimmt. Es wäre auch nicht richtig, die Gruppe mit einem Gedicht T. S. Eliots zu belasten, das in diesem Heft abgedruckt ist, eine Mischung von Symbolismus, Dada, mit einem Schüßchen Whitman . . . und den allerkomischsten Anmerkungen, die jemals ein Autor seinem eignen Gedicht angehängt hat, darin er zitatenmäßig genau nachweist, wo er sich den Schnupfen seiner Inspiration zugezogen: bei Wagner, Shackleton, Hermann Hesse, und wo zu dem Vers: »Avec un bruit sourd au dernier coup[490] de neuf heures« treuherzig angemerkt wird: »Dieses Phänomen habe ich oft beobachtet.«
Das alles sind Schönheitsfehler. Kein Schönheitsfehler aber ist die maßlose Überschätzung dessen, was hier ›das Geistige‹ genannt wird.
Ob ›das Geistige‹ etwas bewirkt oder nur etwas Geschehendes ankündigt, steht dahin. Daß der Bolschewismus auch einmal Theorem gewesen ist, abstrakt von Habenichtsen, die jeder Esel von Realpolitiker verlacht hat, ausgeklügeltes Programm – das wissen wir. Aber wenn hier – in der Gruppe des ›Esprit‹, die sich übrigens von den Surrealisten ausdrücklich getrennt hat – irgend etwas Lebensfähiges stecken sollte, so muß noch viel Fett herunter. Das Fett der falschen Lyrik, der Dichtung überhaupt, das Verschwommene – der Meister Hegel wird den Schülern noch vielen Kummer verursachen, und ein bißchen Schopenhauer täte ihnen trotz allem ganz gut.
Und anstelle des Fetts brauchen sie Sehnen und Muskeln: die Meditation über das Leben, basiert auf Technik – denn es heißt nicht: Fort von der Technik, fort vom Spezialistentum, fort von der Maschine! Man muß da hindurch – man muß nur aufzuhören wissen, sonst droht der Fluch, ein Fachmann zu werden: aber man muß einmal ein Fachmann gewesen sein. Und zwar gewiß kein Fachmann der Schuhsohlenfabrikation, aber einer des Lebens.
Wie hat Lenin Jahrzehnte lang gerufen? »Seid bereit! Seid bereit! Seid bereit!« Sind es diese jungen Franzosen?
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»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
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