Standesdünkel und Zeitung

[375] »Sehr geehrte Redaktion! Bestelle hiermit Ihr Blatt ab, da ich als Telegrafenbauobersekretär Anstoß nehme, wie unsre Belange . . . «


Der Berufsdünkel sitzt dem Deutschen tief im Blute – und statt nur über die Junker zu wettern, sollte er sich einmal die Geschichte der alten Zünfte ansehen, wie da nicht nur die ›Bönhasen‹ verfolgt wurden,[375] was eine wirtschaftliche Maßnahme war, sondern wie der Schneider und der Schuster eine ins Mystische spielende Scheu vor dem eignen Tun hatten, einen Respekt vor sich selbst – was mehr zum Moralischen gehörte.

Die Industrie hat nun merkwürdigerweise nicht den Ackerbau und die Beamten industrialisiert, sondern sie selbst ist verjunkert und administrativ überorganisiert worden – und was früher der Ritterstiefel und das treffliche Schwert waren, das ist heute das Wort ›Großindustrieller‹ und ein Kollektivwahnsinn, der nahezu alle Gruppen des Wirtschaftslebens erfaßt hat.

Jede Gruppe schwitzt zunächst einen Sekretär aus – und es ist kein Zufall, daß die Arbeiter und Werkmeister, die dergestalt ›aufrücken‹, nicht zu den Tüchtigsten ihres Fachs gehören. Es ist meist der schwach befähigte, der minderbegabte oder der minder fleißige Arbeiter, der sich nach einem Loch umsieht, durch das er sich drücken kann. Dieses Loch gibt ihm die Organisation. Einmal Funktionär geworden, hat er das größte persönliche Interesse daran, seinen Aufgabenkreis zu erweitern und aufzuplustern und seiner Gruppe eine Art Weltenmonomanie einzutrichtern, die der eingeht wie warmes Öl.

Der Respekt, womit in Deutschland jeder ›Fachmann‹ bewundernd zu seinem eignen Kram aufsieht, ist mehr als lächerlich. Es hat den Anschein, als habe es noch niemals Ingenieure, Buchbinder, Fleischermeister und Ärzte gegeben – als gäbs auch anderswo keine, und wenn man die meist mittelmäßige Ausbildung des Durchschnitts kennt, der seine Sache eben so recht und schlecht macht, wie es zu allen Zeiten alle Menschen gemacht haben, mutet diese Feierlichkeit doppelt komisch an.

Ich spreche nicht von der verständlichen Art der Interessenvertretung. Daß die Landwirte oder die Grubenbesitzer auf die öffentliche Meinung mit allen Mitteln – auch mit denen der Erpressung – ihren Druck ausüben, ist ein ökonomischer Vorgang, den mein Kollege von der Wirtschaft glossieren und im einzelnen erklären mag. Hier soll vom Berufsstolz gesprochen werden, und der hat besonders in Deutschland ein Ausmaß angenommen, das nur von der Engstirnigkeit seiner betriebsamen Träger übertroffen wird.

Daß die Herrschaften, fast ohne Ausnahme, sich auf ihren Kongressen besoffen reden, mag in der menschlichen Natur begründet sein. Da sind sie unter sich, und wenn die Zahnärzte, die Buchhändler, die Schriftsteller, die Farbenfabrikanten ihren ›Reichskongreß‹ abhalten, dann möchte sich der harmlose Zuhörer einen dicken Vollbart umbinden, unter dem sichs lächeln läßt.

Daß in der deutschen Privatunterhaltung der Fachmann dem Laien gegenüber fast immer ungezogen wird, hat seinen Grund allerdings auch darin, daß dieser Laie sein Laientum niemals eingestehen, sondern[376] ›von der Sache gründlich informiert sein‹ will, und daß so der Kranke dem Arzt ein wissenschaftliches Kolleg hält, statt brav und naiv seine Laienmeinung zu äußern, die nicht unbedingt dümmer zu sein braucht als die abgestempelte.

Gefährlich und weitaus übler wird diese übersteigerte Berufseitelkeit, wenn sie sich auf die Zeitung erstreckt. Hier wird von sämtlichen Berufsgruppen wahrhaft gemein gewirtschaftet.

Kurt Hiller hat ja hier einmal auseinandergesetzt, was geschieht, wenn man Geistesrichtungen angreift: gehört man der Gruppe an, heißt es, das eigne Nest dürfe nicht beschmutzt werden – gehört man ihr nicht an, wird einem die Kompetenz abgesprochen. In den Berufen ist es noch viel schlimmer.

Jeder Schlosser hat heute ein ›Berufsproblem‹, und jeder Privatdozent hält sich für den Nabel der Welt; mit der Stirn am Boden, über dem demütig gebeugten Kopf ein Opfertier (wahrscheinlich einen Hammel) haltend, so hat sich der Gläubige dem Tempel zu nahen. Es ist aber gar kein Tempel da.

Vorhanden ist nur – von den Laternenanzündern bis herunter zu den Richtern – ein Berufsgrößenwahn, dem zu huldigen die Zeitung mit allen Mitteln gezwungen wird. Argumentiert wird so:

»Die Verhältnisse in unserm Beruf liegen so kompliziert, daß ein gewöhnlicher Mensch überhaupt nicht in der Lage ist, über uns ein Urteil abzugeben. Dazu sind wir da, und dazu haben wir die Fachzeitschriften, in denen – immer unter Wahrung der Tempelidee – das Nötige gesagt werden darf. Die Zeitung hat zu schweigen.«

Loben darf sie. Noch niemals hat sich ein Beruf gegen ein Lob von außen gewehrt, noch niemals habe ich gelesen, daß die Schreibmaschinenindustrie etwa sagt: Du kannst uns nicht loben, denn du kennst uns nicht. Und weil es eben ein schwerer deutscher Aberglaube ist, daß man in alles tief hineinsteigen müsse, und daß nicht aus allen Untersuchungen unten eine einfache Formel herausfallen könne, die eben eine Formel ist: ungerecht scheinend, vergröbernd, aber, ist sie gut gefaßt, schließlich gerecht – deshalb haben wir in allen Berufen diese Burschen, die das Leben bewußt komplizieren, um hinter den so geschaffenen Komplikationen ungestraft und unbeobachtet ihren Unfug treiben zu können. Tabu.

Die Beamten sind überhaupt nicht zu fassen. Daß vor dem Kriege selbst die sozialdemokratische Presse Furcht hatte, es mit ihnen dadurch zu verderben, daß sie etwa eine Verminderung des Staatsapparates forderte, mußte einen wunder nehmen – denn vor dem Kriege gab es eine mutige sozialdemokratische Presse. Sie hatte Angst, Wähler zu verlieren; arbeitete also gegen die Interessen ihrer Arbeiterwähler, indem sie vorgab, es käme alles auf die Stimmenzahl an; so ließ sie sich lieber von Leuten mitwählen, die eigentlich gar nichts bei ihr zu[377] suchen hatten. Mit solchen Brocken im Fundament fiel sie denn auch in sich zusammen, als Taten gefordert und erwartet wurden.

Aber auch heute wagts keine Zeitung. Die Beamten sind ausgezeichnet organisiert: Massenabbestellung, Inseratenboykott sind die prompten Folgen eines wahrhaften Aufsatzes. Dementsprechend ist denn auch die Zeitungspolitik zu werten.

Dem einzelnen Redakteur ist kein Vorwurf zu machen. Die Zeitung ist ein Geschäft und nichts als das: alles, was sich in ihr als ›Kulturgut‹ ausgibt, ist entweder harmlos und zu nichts verpflichtend – oder Fassade. Die Zeitung hat nicht die Macht, die sie hat – die Inserenten haben sie. Die anständigen Blätter können diesen Tatbestand verhüllen und sogar abschwächen, mehr können auch sie nicht. In ihnen wie in den dienstbaren Zeitungen tobt sich also der Standesdünkel ungehindert aus. Und sieht so aus:

Der ›wissenschaftliche Charakter‹ des Standes wird betont. Man sollte nicht glauben, daß der lächerliche Doktortitel auch in die praktischen Berufe hinüberspukt, die ums Verrecken nicht als solche gelten wollen. Eine Hochschule wollen sie alle – sonst ist ihnen nicht wohl. Scharfer Instanzenzug in der Innenorganisation des Standes – mit Ehrengerichtshöfen und Standeskammern und allem Klimbim. Großer Nebel vor dem eigentlichen Tun, unter strengem Ausschluß des ›Laien‹. Der Arzt hat an solchem Hokuspokus noch ein gewisses verständliches Interesse: die Suggestion auf den Kranken wird größer. Was aber an der Bedienung einer Turbine, an einer Hypothekenbank, am Bankbeamten, am Zuschneider gar so welterschütternd sein soll, wissen nur die, die erschüttern wollen, und die, die sich erschüttern lassen. Das Militär, dieser tiefste Ausdruck der deutschen Seele, hats ja nur deshalb so leicht gehabt, weil an das Letzte im Deutschen gerührt wurde: an das Gefühl vom Unwert des Individuums und an den Gruppenstolz. Heute findet der doppelten Ausdruck, und Herr Lupatsch zeichnet nicht: Lupatsch, sondern: Dr. jur. et rer. pol. Lupatsch, Leiter der Propaganda-Abteilung des Stadt-Museums.

Denn leiten wollen sie alle. Sie leiten in Wahrheit zwei Schreibmaschinendamen und ihre eigne Arbeit – an der man einmal Diener gewesen ist. Aber niemand hat solche Gier, für einen Herrn gehalten zu werden, wie der Knecht. Hierhin gehört auch der ›Pressechef‹, wie überhaupt die Vorliebe für das Wort ›Chef‹, welche Vorliebe wohl aus dem Kriege stammt. Sie überladen sich mit Titeln, und unter einem ›Direktor des Nachrichtenamts‹ tuts keiner. Und hier finden wir nun diese Merkwürdigkeit: statt die staatliche Wirtschaft nach den Gesetzen der Privatwirtschaft zu vereinfachen, verwickelt sich die Privatwirtschaft in staatlichen Formelkram.

Jede Gruppe kopiert den Staat auf das lächerlichste. Haben Sie einmal eine Verbandszeitschrift gesehen? Da gibt es, bei den Fußballspielern[378] und bei den Messingfabrikanten: ›Amtliche Mitteilungen‹, womit die Nachrichten des Vereins gemeint sind – und als mir neulich ein braver Gewerkschaftler etwas von ›Führerbeschimpfung‹ schrieb, schmeckte ich die ganze Würze einer immanenten Majestätsbeleidigung. »Ils veulent codifier tout«, sagte mir einmal ein Franzose, als wir über die Deutschen sprachen. Ja, sie sitzen auf ihrem Codex. Und schreien über ›Verallgemeinerungen‹ wenn man ihnen die Wahrheit sagt.

Kein Stand hat aber das Recht, sich über generelle Urteile zu beklagen, wenn er auf seinen Verbandstagen nichts gegen den herrschenden Gruppengeist verlauten läßt; wenn er nicht scharf protestiert, so etwas faul ist; wenn er den Korpsgeist über die Wahrhaftigkeit setzt. (Beispiel: die Richter.) Beurteilt wird rechtens jeder Beruf und jeder Stand nach seinem mittlern Typus, nicht nach den Spitzen und nicht nach den Außenseitern. Und erfahrungsgemäß kreischt ja niemand so wie der, dem recht geschieht.

Die Unart, sein Werk aufzublasen, bis es vor Wichtigkeit dem Platzen nahe ist, nimmt derart überhand, daß der Standesdünkel heute auf alle Berufe übergegriffen hat – der Titelwahnsinn ist nur ein äußeres Zeichen dafür. (Daß sich auch die Frauen mit den Berufsbezeichnungen ihrer Männer anreden lassen, wird man einem Fremden nur schwer begreiflich machen.)

Und so drückt dieser Fasching der Eitelkeiten auf die Zeitung, die seufzend nachgibt, aber nachgibt. Sie muß. An ihre ›Objektivität‹ wird appelliert, leise wird gedroht, dann lauter – und ein in seiner Standesehre (was ist das?) verletzter Stadtrat rührt die Zeitung, die einmal eine unfreundliche Bemerkung über die Stadträte gemacht hat, nicht mehr an.

Sehr typisch ist ferner, daß auch die vernünftigen Leute diesen Unfug so entschuldigen: »Wissen Sie, ich halte ja nichts davon – aber man braucht das wegen der andern – man dringt sonst nicht durch.« Denn dies ist wahrhaft deutsch:

Die gesamte Anstrengung, die anderswo einer dauernd an sein Leben setzt, gilt hier der Erringung einer nach außen hin gekennzeichneten Stelle mit vertraglich garantierter Autorität. Ist die einmal erreicht, dann will der Autoritätsinhaber nichts mehr tun, um sich zu behaupten – man soll ihn anerkennen, der Stelle wegen. Wieviel Schwäche steckt darin, wieviel Faulheit, wieviel Unsicherheit! Behaupte dich, wenn du was gelten willst! Beweise es täglich aufs neue, daß du ein Führer bist! Kämpfe –! Sie aber sind, nach schwerem Kummer, ›Leiter des Betriebsrats‹ geworden, und dann: Gute Nacht.

Der Standesdünkel liegt in derselben Schublade wie der Patriotismus. Vom Feuerwehrverein bis zum Vaterland sind nur wenige Schritte. Und daher sieht bei uns der Skatverein wie ein Staat und der Staat wie ein Skatverein aus.


  • [379] · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 16.03.1926, Nr. 11, S. 417.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 375-380.
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