[344] Die Französische Fotografische Gesellschaft und der Pariser Foto-Klub haben eine kleine Ausstellung von Fotografien arrangiert; in der rue de Clichy Nr. 51 ist sie zu sehen.
Vorausgeschickt sei: Wer ist eigentlich für die Beteiligung von Deutschen bei ausländischen Ausstellungen verantwortlich? Was da auf der kleinen Tafel ›Deutschland‹ hängt, ist mit ein, zwei Ausnahmen mehr als kümmerlich – von Perscheid, der Frau Rieß und den ausgezeichneten großen deutschen Fotografen ist auch nicht eine Spur zu sehen. Wir haben in Deutschland für jedes Ding dreiundfünfzig Organisationen – und wenns zum Klappen kommt, liegen sie sich in den Haaren, und keiner kann dafür . . .
Die deutsche Perle, die da hängt, heißt ›Schaffende Hände‹ und[344] stammt von einem Mann, der im Katalog als ›Renger Patzsch (Albert D. W. B.) Bad Harzburg‹ figuriert, Gott mag wissen, wie der Mann wirklich heißt. Dargestellt sind auf dem Bild zwei Hände eines Tonkneters über der Drehscheibe, der fette Ton hat die Finger eingesalbt, die triefen vor Ton und Arbeit – eine ganz erstaunliche Leistung; man kann den Ton fast abheben, so reliefartig ist er getroffen. Diese reine Augenfreude am konkreten Ding, am Material, an der lebenden Sache findet sich in dieser Ausstellung sonst nur noch bei den Amerikanern, die am besten abgeschnitten haben.
Sie haben zum Beispiel (›In the kitchen‹) nur den Wasserhahn am Ausguß fotografiert, mit einer Emailleschüssel davor . . . aber wie da jeder Wassertropfen glänzt, wie das blinkt, mit welcher Eindringlichkeit so etwas gegeben ist, das ist nun zum Erstaunen gar. Das ist, um ein dummes Modewort abzuwandeln, ›alte Sachlichkeit‹, jene, die nie ausstirbt, weil sie auf dem gesundesten Empfinden beruht und weil es allerbeste handwerkliche Arbeit ist, die dahinter steckt. Der Fotograf heißt Coster und wohnt in Baltimore.
Sie haben vor einer körnig gekalkten Mauer eine Winde fotografiert, nichts als etwas Blättergerank und diese duftige, papierdünne, windige Blüte – und es kribbelt einem in allen Fingern, man will das anfassen, darüber hinstreichen, du atmest diesen unendlich dünnen und kaum wahrnehmbaren süßen Geruch, den das Blütchen ausströmt . . .
In Ohio haben sie ein paar Teller auf einen Tisch gestellt, und die kühle Glätte des Porzellans füllt alle Gehirnzellen; in Los Angeles kommen ein paar Mädchen einen abschüssigen Weg heruntergegangen, und man kennt Licht, Luft, Landschaft und Atmosphäre; sie spielen mit Masken und Frauenköpfen, mit dem Ku-Klux-Klan; aus Kanada haben sie einen Waldbrand geschickt, der trägt eine Brise von Asche, von angesengtem Holz und träg rauchenden Baumstümpfen herüber . . . Das sind Wunderwerke der Fotografie.
Dagegen verblaßt fast die ganze übrige Ausstellung. Herr John Rise aus Norwegen gibt einige schöne, fast kunstgewerbliche Bilder, die Polen sind gut vertreten – aber der Rest, besonders Frankreich, hat leider nur, in völliger Verkennung des Wesens der Fotografie, ›schöne Bilder‹ ausgestellt, mehr oder minder schön, »so gut nachgemacht, wissen Sie, daß man gar nicht glauben möchte, es wäre eine Fotografie« – also der vollendete Stilunsinn.
Aber ein Zimmer ist da, ein einziges kleines Zimmerchen, in dem schweigt jeder Einwand, hier kann man nur die Augen aufmachen, sich ein kleines Schauerchen den Rücken herunterlaufen lassen . . . hier sind alte, ganz alte Fotografien. Hier ist altes Licht.
Die älteste Fotografie auf Papier ist da zu sehen: sie stammt aus dem Jahre 1839, ist fahlgrün, und wenn man genau hinsieht, kann man Dächer erkennen und Umrisse von Häusern, das ist Paris, das[345] alte Paris, aufgenommen vom hochgelegenen Fenster eines Ministeriums . . .
Neben rührenden Daguerreotypien hängen da die ersten Momentaufnahmen, die je gemacht worden sind: so eine von einer Prozession, die durch die rue des Batignolles zieht – aber da brennt es ja auf dem Bilde! Rauchschwaden schlagen aus den Häusern, aber zum Glück sind das nur fotografische Kickser, da hat die Linse nicht so gewollt, wie der Herr Fotograf, und die Dunkelkammer auch nicht. Auf einer Caféterrasse sitzen sie da, seit dem Jahre 1877 sitzen sie da unbeweglich auf dem Bild: mit jenen reizvoll hohen Hüten, die Damen in langen Kleidern, und die Männer in langen Bärten, und man möchte sie alle zusammen streicheln. Und manchmal geht es gespenstisch zu auf diesen Bildern: da steht ein altes Pferd vor einem Planwagen (es ist nun schon längst tot), und leider sind Pferd und Wagen etwas durchsichtig geraten, man kann durch sie hindurch die Gartenmauer dahinter sehen, wie ein Filmgespenst stehen sie im Bild, wie eine Vision . . . Und vom Brand der alten Opéra-Cornique sind schreckliche Verwüstungsbilder zu sehen, und es gibt auch noch eine Aufnahme des alten, seinerzeit riesigen Platzes vor dem Louvre, wo noch keine Gartenanlagen waren; merkwürdig, welchen horror vacui die modernen Stadtväter in allen Ländern haben, sie können keinen leeren Platz sehen. Ein Platz ist aber nur ein Platz, wenn er leer ist – dann erst singt seine Struktur, die beschwingten Linien der angrenzenden Häuser fangen an zu sprechen. – »Ich bin ein Platz!« sagt der Platz. Heute haben sie überall ›Anlagen‹ daraufgesetzt, und nun schweigen die Plätze und sind gar nicht mehr da.
Alte Fotografien! Alle sind schon tot, die auf euch zu sehen sind; die Wagen sind zerhackt, die Gartenstühle vermodert, die Seidengarnituren zu Staub zerfallen; von den Menschen sind vielleicht einige Grabsteine übrig geblieben, und die Straßen gibt es gar nicht mehr . . . Es hat doch aber einmal alles gelebt, was da zu sehen ist, gelebt wie wir – es war doch da. Es ist wie ein Gruß aus einer verschollenen Zeit, durch den Nebel der Vergangenheit tönt deutlich das Radio-Ticken des Lichts – ohnmächtig tastet die Hand rückwärts, will etwas erfassen, aber es entgleitet. Zeit, du lautloser Gott! Und wenn einer sich zum Eremiten machte und in einer Höhle die Sünden der Vorväter abbüßte –: dem kann er nicht entrinnen. Die Rathausuhr auf dem großen Platz schlägt auch für ihn; der kleine Sekundenzeiger an der Zeitscheibe des ›Matin‹ auf den Boulevards rast auch für ihn. Da hängen an den Wänden die alten Fotografien und zeigen unbeweglich das alte Licht, das einst auf sie fiel – der Leierkasten der Vergänglichkeit spielt ein schönes, nachdenkliches Lied, was uns nicht abhalten soll, die Sache mit dem Kerl, dem Meier, die wir für morgen vorhaben, für die wichtigste, für die allerwichtigste der Welt zu halten. Vorwärts! Vorwärts –!