Besuch bei J. V. Jensen

[232] Das kleine Dänemark hat ein großes Auge, mit dem es die Welt sieht – und dieses Auge ist der, der hier oben mit einer Abkürzung ›Johannes V.‹ genannt wird. Darf man guten Tag sagen?

Dem dunkelroten Ziegelhaus mit den platten Fenstern gegenüber liegt eine königliche Brauerei, und während ich die kleinen Treppenabsätze hinaufklettere, mache ich eine ethnographische Reise: da wohnt Herr Warncke und Herr de Fontenay und Herr Salomon, und ganz oben erst wohnt Columbus, der größte Reisende unserer Zeit.

Er hat den schmalen Kopf eines gütigen englischen Landpfarrers, aber wenn sich die Mundwinkel biegen, wenn die großen Augen hinter den Brillengläsern manchmal hart im Ausdruck werden, dann ist da noch etwas anderes. Die Stirn ist hoch und ausgebuchtet, die blassen Hände wirken mitunter ein klein wenig entmaterialisiert. Aber es ist wohl besser, Herrn Liebermann zu zeichnen . . . Er spricht deutsch.

Das Gespräch beginnt, wie es sich für ein ordentliches Gespräch gehört, beim Wetter – ja, der häßliche Frühling – und wie lange wollen Sie denn noch in Kopenhagen . . . ? Die Worte laufen, und ich kann ihm doch nicht gut einen Lorbeerkranz auf die Stirn drücken, das fiele entschieden auf, ich habe auch gar keinen bei mir. Immerhin ist es der Mann, der ›Arabella‹ geschrieben, aus dem Nichts geholt, geschaffen hat; der ›Louison‹ durch Paris wandeln ließ, durch Paris, das der Glückliche noch erlebt hat, als er auf dem ›Imperial‹ der Omnibusse fahren durfte; der den chinesischen Kuli sprechen ließ und die spanischen Stiere schnaufen machte – und weil jeder Schriftsteller neben seinem Werk steht, kann ich ihm das nicht so sagen. Aber da hat sich das Gespräch nun gefangen, die Vorfühler haben sich ineinander gehakt – nun haben wir uns.

Natürlich hat er Whitman, den großen Abenteurer, übersetzt und eingeleitet, und nun spricht er über ihn, wie er ihn hört – »Es sind niemals Rhythmen, die man abmessen kann, keine Daktylen, keine Jamben – das wäre verkappter Vers. Nein, das ist es nicht.« – »Ein unterirdischer Rhythmus?« – »Ja. Und weil Whitman einmal Typograph gewesen ist, auch mit dem Auge wahrnehmbar – er hat beim Schreiben gewußt, wie das Geschriebene gesetzt aussehen wird. Er ist heute noch so modern wie damals vor vierzig Jahren, als er lebte und dichtete: ›eine Synthese aus Annonce und Bibel‹.«

Wir sprechen von Jensens geistigen Vätern – und was die freien Verse (die leider im Deutschen noch nicht nachgeschaffen sind) anbetrifft, zeigt er auf Heine und den Goethe des ›Prometheus‹. – Kipling? Nein. Bei aller Bewunderung seines Könnens nennt er dessen Haltung während des Krieges infam – »Er muß doch immerhin eine Schulbildung[232] genossen haben – welche Barbarei!« – und er erklärt das mit der von Kipling bis zur Raserei abgestrittenen Mischblütigkeit. Kipling? – »Kennen Sie sein ›Rikki-Tikki-Tavi‹?« Ja, das kenne ich – es ist die Geschichte von dem Mungo, dem katzenartigen kleinen Raubtier, das mit den Schlangen im Garten kämpft. »Da haben wir ihn ganz: genau so ist er selber.«

Und weil wir bei den englisch sprechenden Völkern sind: Sinclair Lewis – ja, das ist sein Mann. Ich erzähle ihm vom Autor ›Babbitts‹ das wenige, das ich von einer Zusammenkunft in Paris weiß – er hört aufmerksam zu. Wie er aussieht, und was er gesagt hat, und wie er wirkt . . . »Das ist die Kollektivseele – sehen Sie, da steht schon einer auf gegen das Horden-Amerika.« – »Auch gegen die mechanisierte, durch Radio und Kino und Ford egalisierte Welt?« – »Das ist die mindere Gefahr. Viel schlimmer ist die Überproduktion an Menschen. Es gibt zuviel – es ist eine Übervölkerung der Erde da. Und weil ja, wie Sie aus der Geschichte wissen, alles Wichtige und Wertvolle aus der Isolierung entstanden ist, geht den neuen Menschen natürlich etwas verloren.« Pessimismus? Gar nicht. J. V. Jensen ist in den letzten Jahren immer mehr Biologe geworden, einer, der die Natur ansieht, der ihre ewig gleiche Bewegung zu erkennen versucht. Es ist ganz besonders bedauerlich, daß diese Essays, diese Fülle von Erkenntnissen nicht ins Deutsche übersetzt worden sind; ich fürchte, daß man eines oder das andere übertragen wird, und das wird man dann – ohne die voraufgehenden zu kennen – nicht verstehen. Ein Schriftsteller ist ja schließlich ein Mikrokosmos – mit Stückwerk ist da nichts getan. Verleger, wo bist du?

Und dann sprechen wir vom Reisen.

Ja, seinen einzigen wirklich würdigen Nachfolger liebt er und schätzt er wie ich: das ist Arthur Holitscher. Der sähe aus . . . »Es gibt ein sehr gutes Bild von ihm, kennen Sie es?« – »Das von Gulbransson?« frage ich. – »Nein. Eines, das vor vierhundert Jahren gemalt worden ist. Es stammt von Velasquez.« Und Frau Jensen bringt den Band mit den Bildern von Velasquez und Johannes V. schlägt ihn auf: das ist allerdings Holitscher, und ich soll ihn grüßen und ihm bestellen, daß er da also leibhaftig im Prado hängt und ›Aesop‹ heißt, und er ist es wahr und wahrhaftig.

»Ich habe ja eine Menge Stätten und Orte besucht, die er bereist hat – ich kann es kontrollieren – er ist ehrlich und weiß zu beobachten – er hat noch das Staunen eines Kindes. Er kann sehen«, sagt Jensen dann. »Man hat mich so oft gefragt, wie ich arbeitete, und wie denn meine Methode sei. Methode . . . Bei mir geht alles durch das Auge. Ich spreche fast nie mit den Leuten – das stört mich eher. Ich sehe ja die Leute. In China ist das sehr bequem – man reist ungestört, weil man kein Wort von dem versteht, was sie sagen.« So spricht[233] Intuition, und so kann man freilich keinen Wirtschaftsbericht über die Petroleumquellen in Baku machen – aber man kann, was vielleicht mehr ist, von der Seele fremder Völker etwas sagen.

In Deutschland? Ja, das letztemal mit dem Zeichner Anton Hansen auf der Rückfahrt von Palästina acht Tage in München. Und kurz einmal in Berlin bei S. Fischer.

Die Welt zerfällt natürlich nicht in ›Deutschfreundliche‹ und ›Deutschfeindliche‹ – das ist eine monomane Vorstellung. Aber die Art, wie sich Jensen in Dänemark während des Krieges gehalten hat, war gerecht und wahrhaft europäisch, und das ist sicherlich nicht immer leicht gewesen.

Einen Händedruck. Und eine freundliche Einladung, einmal auf sein Landhaus zu kommen, oben bei Tisvildeleje . . . Eine Kompaßnadel aus edelstem Stahl, hart und auf den leisesten Ausschlag nach Norden zu gehorchend – leb wohl, Reisender, Columbus, leuchtendes großes Auge im kleinen Dänemark.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 19.06.1927.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 232-234.
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