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[270] Das Wort ist seit etwa zehn Jahren in die Umgangssprache eingegangen: ›menschlich‹. – Herr Kulicke sagt: »Ich habe eine Enttäuschung an ihm erlebt – menschlich.« – Und: »Wie ist er menschlich?« Das ist so zu erklären:
Deutschland ist, wie seine Sprache in tausend Einzelheiten anzeigt, so verfachlicht, in Berufskategorien eingeteilt, ständisch schematisiert, daß es immer besonders hervorgehoben werden muß, wenn jemand den andern nicht ›als‹ Kommunalbeamten ansieht, sondern als das, was er wirklich ist. Die Fiktion, jemand könne nur ›dienstlich‹ etwas tun, jemand habe überhaupt den Anspruch, nur sachlich und fachlich gewertet zu werden, rächt sich bitter: sie treibt den Wesensgehalt scheinbar aus dem Menschen aus, aber er kommt fürchterlich zurück, und meist verborgen. Was eine herrliche Gelegenheit ist, Verantwortungen von sich abzuwälzen, sich hinter den Dienst zu verkriechen und wesenlose Schemen eine Verantwortung tragen zu lassen, die das Individuum zu tragen zu feige und zu charakterlos ist.
Wie so viele Fachwörter der falschen Innerlichkeit heißt das Wort ›menschlich‹ in Wirklichkeit etwa: ›und überhaupt und so‹ – denn eine exakte Bedeutung ist da nicht zu finden. Die Entdeckung eben dieses Menschlichen hinter dem Fachwerk der Berufseitelkeiten ist lustig genug – vollkommen irreal und in Wahrheit nicht vorhanden.[270] Der zweite Bürgermeister tut sich etwas darauf zugute, nur Beamter im Dienst zu sein und nichts als das – das ›Menschliche‹ holt er in Mußestunden hervor und zu ganz besonders schönen Anlässen – dann heißt dergleichen ›human‹. Es ist die ehemals preußische Furcht darin, alles Menschliche sei von vornherein verdächtig, unangemessen, ungehörig – und es wird darum verjagt wie Singvögel von einem Kasernenhof.
Unsere Schlagwortsprache ist zur Zeit ein bißchen gedunsen – ›menschlich‹ ist eine der zahlreichen Beulen, die zu verarzten wären. In diesem modernen Seelenjargon ist soviel schwerer Augenaufschlag, so viel falsches Drama, so viel Romankram. Die Trivialität kleidet sich heute so schön bunt und apart, daß nichts Apartes übrig bleibt – Originalität ist zum Schluß eine banale Mode, die ja auch manchmal darin bestehen kann, um Gottes willen nicht originell zu sein.
»Sie ist menschlich schon sehr fein . . . « (man beachte das scheußliche ›schon‹, das wie eine falsche Perle in der Kunstseide dieses Satzes blinkt). Natürlich ist sie ›menschlich‹ sehr fein – wie denn: Welch Unfug, durch solche Adverbia alles kastenmäßig einzuordnen! Aber das trägt man so. Und es ist recht beliebt.
Das wäre ja nun nichts als ein Aufputz billiger Waren durch ein billiges Goldfädchen, wenn sich die Fabrikanten nicht gar so bedeutend vorkämen, so geschwollen, so kompliziert, so seelisch verwickelt. Und sind doch nur armselige Straßenhändler von Massenartikeln.
In der Industrie hat man das längst heraus; eine gute, brauchbare Ware täuscht kein falsches Material mehr vor, das ist vorbei – und täuscht vor allem nicht vor, eine Handarbeit zu sein. Wir wissen, daß die Handarbeit für den Luxus oder die Liebhaberei reserviert ist; wir andern haben uns im täglichen Leben mit Massenfabrikaten zu behelfen, nein: uns ihrer zu bedienen – und Aufgabe der Industrie ist es, diesen Massenartikel, so ornamentlos, so sauber, so glatt, so billig und so praktisch wie möglich herzustellen. Ford.
Aber im Seelischen haperts. Da wird ›menschlich‹ gemogelt. Da spukt das gute alte Handwerk, das schlechte alte Handwerk, Biedermeier, falsche Individualisation, kleine Eigenarten zu eins fünfzig und der ganze Humbug einer Privatseele. In summa: der Mensch zu dieser Zeit ist in Mitteleuropa noch nicht geboren – er hinkt den Ereignissen um ein betrübliches nach. Schade – er wäre ›menschlich‹ höher zu werten, wenn er seine Zeit und sich selbst begriffe.
Die unerbittliche Wirtschaft nivelliert erbarmungslos; die Leute wohnen schon unverlogener, besonders in Deutschland; sie disponieren mit ihrem Geld genau der harten Wirklichkeit entsprechend. Die Rache des Individuums, das sich vergewaltigt fühlt, wirft sich aufs ›Menschliche‹ und will mit aller Gewalt, bockend, zurück. Vergebens. Es wird nach vorn gerissen, es muß, es muß.
[271] Hoffen wir, daß die ›Menschlichen‹ des Jahres 1980 soweit sind, wie die Welt aus dem Jahre 1926. Dann wäre sie sachlicher und weniger unmenschlich.