Das verzauberte Paris

[291] Im August ist Paris die zweithäßlichste Stadt der Welt: staubig, heiß, stickig, grau und reizlos. Auf den Boulevards kann man manchmal auch einen Franzosen sehen – der ist dann aus Algier und sieht auch so aus. Die Original-Franzosen sind in Trou-sur-Mer und werden dort mit Flintenschüssen empfangen. ›Nepp‹ heißt: le coup de fusil – es gibt in Paris an der Kirche Saint-Philippe-du-Roule ein Restaurant, das gleich schießt. Und in diesem Sommer hats immerzu geregnet,[291] immerzu, und dazwischen war es heiß, und hochmütig sahen die gerippten Flächen der geschlossenen Fensterläden auf uns herunter, die wir im Staube krochen . . . Auf einmal war alles ganz anders.

Heute ist Mariä Himmelfahrt, und über Nacht ist der Herbst gekommen. Ah, noch nicht der mit den gefärbten Blättern und den jagenden Wolken und den Windstößen an der Ecke – wir sind ja erst im August. Aber es gibt einen Anfang des Herbstes, den spürt man in der Luft; es hat da so einen kleinen Ruck gegeben – ›knack‹ hat es in der Natur gemacht, und nun ist auf einmal kein Sommer mehr, nun ist da etwas Neues.

Die Luft steht still.

Die Bäume stehen still und rühren sich nicht in der milden, schon eine Spur herben Sonne. Sie warten. Alles wartet auf etwas. Die Schatten im Laub sind dunkler, die Schatten in den Mauerwinkeln, wo die Spatzen wohnen, sind schwärzer, das Licht goldener, die Luft blauer, härter, klarer. Es beginnen die Spätsommertage, jene Tage, die man festhalten möchte, und bei denen man nicht genau weiß, wo der Sommer aufhört und der Herbst beginnt . . . Schon . . . ? Schon.

So ein Tag ist das also heute.

Paris ist leer. Seit Sonnabend mittag sind nun selbst die ausgeflogen, die nicht an die See, nicht ins Gebirge gereist sind: sie haben den halben Sonnabend, den ganzen Sonntag und den ganzen Montag, der ein Feiertag ist. Paris ist leer. Paris ist verzaubert.

Man kann die großen Boulevards hinuntergehen; da sind noch einige Menschen, auch noch Wagen . . . Aber die langen Avenuen meiner Lieblingsviertel sind leer geblasen – man kann sich durch das Siebente träumen und durch das Achte – man kann auf dem Fahrdamm stehenbleiben und einer Katze zusehen, die hochmütig an der Tür sitzt, eine Concierge auch sie – aber sie zeigt viel weniger Interesse für ihre Mieter als die geschäftige Frau, die in jedes pariser Haus diesen Schuß von Kleinerleuteluft, Klatsch, Gemüsekram und Polizeispitzelei hineinträgt . . . Guten Tag, Katze. Hört nicht.

Leer ist Paris.

Die Stadt sieht straßenweise aus wie die alten Aufnahmen aus dem Kaiserpanorama unserer Jugendzeit, vor denen man sich immer gefragt hat, wann in aller Welt sie denn wohl aufgenommen sein mögen. Gibt es so leere Straßen –? Es gibt sie – und nicht nur um sieben Uhr morgens – nein, jetzt, am hellichten Tage, mittags um zwölf Uhr ist es hier fast überall wie auf dem Dorf. Da gehen Frauen einkaufen, und sauber gewaschene Paare tragen neue Handschuhe und unwahrscheinliche Halbschuhe spazieren, und alle jungen Männer haben viel zu hohe Kragen, und sie sind sehr glücklich.

Unter der Erde, in der Métro – kein Mensch. Leer rollen die Wagen dahin, fast unnütz. Viele Läden haben geöffnet, die nämlich, in denen[292] man sich etwas zu essen kaufen kann. Und Zeitungen kann man kaufen – aber es kauft sie fast niemand. Daudet hat gut Artikel aus Belgien schreiben – zur Zeit langweilt er sich und also uns mit schönen Primaneraufsätzen über die französische Romantik . . . Man fühlt ordentlich, wie das linke Auge des Schreibenden nach Paris schielt, nach Paris, wohin er zur Zeit nicht zurück kann. Es dürfte das eine kleine Dummheit gewesen sein, Herr. Die Leute haben ja nicht schlecht gelacht, als er aus dem Untersuchungsgefängnis, der ›Santé‹, von seinen Freunden befreit wurde (»À votre Santé!« war noch das mindeste –), und an Orten, die ich gar nicht nennen kann, steht angeschrieben: »As-tu vu Daudet?« Haben Sie nicht den kleinen . . . Nein, wir haben ihn nicht gesehen.

Apfelblau ist Paris, und von einer reinlichen, ganz leichten Herbstluft durchflossen. Ob die Luft so gut ist, weil alle Politiker in den Ferien sind –? Der ›Matin‹ hat sie abgebildert – man kann sie da hängen sehen –, und es sieht nicht schön aus. Politiker im hellen Sonnenlicht – das erinnert immer an das, was unter einem Stein kriecht, den man plötzlich hochhebt . . . Und oben stehen die Setzmaschinen des ›Matin‹, und da wird nun alles gesetzt – nichts verschweigen und nichts hinzusetzen, die reine Wahrheit . . . ach, du lieber Gott!

Ich entdecke ganz neue Sachen, die ich noch niemals gesehen habe – bisher stand sich die Stadt immer selbst im Wege. Ich gehe umher, neugierig, beklommen, es ist fast ein bißchen unheimlich. Sind Sie einmal als Junge während der Ferien im Schulgebäude gewesen? So etwas ist es.

Alles wartet. Es ist eine Atempause.

Über ein Kleines.

Und die Lavaströme der Zurückgekehrten werden sich aus den Bahnhöfen in die Straßen ergießen, alle Minister und andere Leute vom Theater werden wieder da sein, die Zeitungen werden wieder lebhafter, niemand ist mehr ›i. V.‹, und dann wird Paris regnerischgrau werden, angefüllt mit silbrigem Nebel, Musik, leuchtenden Festen, gelben Lichtern und aufgeregten Tänzen in den Couloirs des Parlaments.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 24.08.1927.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 291-293.
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