Allein

[110] Wenn das Stubenmädchen Wasser und Handtücher gebracht hat, sagt es: »Brauchen Sie noch etwas?« Das ist eine rhetorische Frage, und dann zieht es die Tür hinter sich zu. Nun bin ich allein.

In einem fremden Hotelzimmer öffnet man das Fenster und macht es wieder zu und geht hin und her. Die Bilder an den Wänden sind töricht, natürlich. Wenn man sich gewaschen hat, kann man pfeifen. Dann lege ich den Kopf an die Scheiben und mache ein dummes Gesicht. Die Nägel könnte ich mir auch mal schneiden.

Was tue ich eigentlich hier –?

Jetzt wäre schön, bei Gauclair in Paris mit einer runden, bequemen Dame zu sitzen, mit einer, die weder Hemmungen noch Probleme geliefert haben will, sie sagt: »Iß nicht so schnell – mein Gott, ich nehms dir doch nicht weg –!« Ja, Paris.

Die Pyrenäen gehn mich überhaupt nichts an. Da treibe ich mich nun schon seit zwei Monaten umher, laufe und fahre von einem Ort in den andern, wozu, was soll das. Für morgen steht im Notizbuch eine besonders schwierige und mühselige Sache, und zwei ältere Bücher darüber muß ich auch noch lesen, vielleicht hat sie die Bibliothèque Nationale . . . das ist ja alles lächerlich. Wie kalt die Fensterscheibe ist –

Jetzt schnurren die Gedanken in affenhafter Geschwindigkeit, die kleinlichsten Geschichten kommen wieder angetrabt, kein blutiger Schatten – viel schlimmer: Dummheiten. Herein! Es hat wohl nur einer an die Wand geklopft. Was sind das für –

Alles kommt wieder. Es plagen und zwicken mich die verpaßten Gelegenheiten, die Antworten, die ich nicht gegeben habe, die kleinen Demütigungen, eingesteckt und bitter heruntergeschluckt, aber ein Nachgeschmack bleibt. Da stehe ich nun im Hotelzimmer und sage mir[110] alles vor, was ich einstmals hätte sagen sollen, aber versäumt habe, zu sagen – aus Torheit, aus Mangel an Geistesgegenwart, aus Furcht . . . Jetzt hole ich es alles nach. Ich sage:

»Achttausend Mark, zahlbar am ersten Januar. Etwas andres kommt gar nicht in Frage.« – Ich sage: »Unmöglich? Tun Sie nur erst Ihr Mögliches, Herr – das Weitere wird sich finden!« – Ich sage: »Deinen Ring, Lisa.« – Ich sage: »Hier liegt wohl ein Mißverständnis vor, ich habe Sie um eine sachliche Angabe, nicht um private Meinungsäußerungen gebeten.« Da war ein Brief . . . den habe ich nicht geschrieben, ich schreibe ihn jetzt. Ich gebe es allen ordentlich – sie fragen so recht dummdreist, und meine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.

Wie dunkel es ist und wie kalt. Sie könnten hier wirklich heizen, das schadete gar nichts. Aber dieser Repräsentationskamin da . . . pah! Ich mag morgen gar nicht aufstehen. Soll ich krank werden? Ich werde einfach sagen: ich bin krank. Dem Führer mit seinen Pferden wird das übrigens gleich sein, denn er ist bestellt, und ich muß ihn bezahlen. Und hier im Hotel macht das Kranksein auch keinen rechten Spaß. Aber ich gehe ganz früh zu Bett, das sage ich dir. Wem . . . ? Das sage ich dir.

Wenn sie guten Rotwein haben, werde ich mir fürchterlich einen ansaufen. Vielleicht gibt es Vieux Marc, aber nicht in diesen kleinen Gläsern.

Jetzt ist es blaudunkel.

Wenn jetzt einer hereinkäme und mich fragte: »Sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier –?« ich müßte antworten:

»Ich vertreibe mir so mein Leben.«


Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 110-111.
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