Cirque de Gavarnie

[89] Der Cirque de Gavarnie ist nicht nur ein Gebirgskessel, sondern eine nationale Zwangsvorstellung. Unmöglich, in Paris von den Pyrenäen zu sprechen, ohne daß der andere sagt: »Vous faites le tour des Pyrénées? Alors il faut voir le Cirque de Gavarnie.« Ja doch.

Das Reisepublikum des Landes hat diese Attraktion sogar schon auf die Briefmarken setzen wollen: sodaß es sich also um eine himmlische Schönheit oder um eine künstlich aufgeplusterte Sache handelt. Wenn die Erwartung vorher so aufgereizt worden ist, gibt es meistens eine Enttäuschung.

Die Straße führt über die Napoleon-Brücke, ein Bogen, der sich hoch über den Bach da unten wölbt. Aber dreihundert Meter davon, wo die Straße noch steigt und ihr Rand sich siebzig Meter über den Abgrund erhebt, da fuhren dreiundzwanzig Menschen in den Tod. Am 3. August 1923 kehrten zweiundzwanzig Holländer, die aus Lourdes nach Gavarnie gekommen waren, vom Cirque zurück, Männer und Frauen, fröhliche Leute auf einem fröhlichen Ausflug. Sie fuhren eine halbe Stunde an ihrem Grab entlang, und was es dann mit dem Chauffeur gegeben hat, der als zuverlässiger Mann in der ganzen Gegend bekannt gewesen ist, weiß man nicht; jedenfalls tobte der schwere Tourenwagen über die kleine Mauerböschung nach unten. Sie stürzten siebzig Meter, ein einziger Mann fiel ins Wasser und blieb unverwundet am Leben. Er kroch unten in eine kleine Höhle, die der Felsen[89] gebildet hatte, an ein Heraufklettern war an diesem Abend nicht zu denken, und ein mutiger französischer Student ließ sich an einem Seil hinunter und brachte dem Halbirren Rum und Zucker. Für die Nacht blieb er allein. Am nächsten Morgen holten sie ihn herauf; er lebt heute noch in Holland. Die andern wurden einzeln zusammengesucht, den Chauffeur fand man nach drei Monaten, die Strömung hatte ihn entführt. Das Chassis des Wagens liegt, ein Eisenskelett, im Abgrund: wenn man sich hart über die niedrige Mauer beugt, kann man es unter den Büschen sehen. Es ist der einzige ernste Unglücksfall, der den Reiseautomobilen hier zugestoßen ist.

Aus Lourdes kommen so viele Ausflügler hierher. Ein Automobildienst ist eingerichtet, und ein Wagen nach dem andern befördert die Menschenpakete an den Cirque de Gavarnie. Die Straße lärmt und rattert den ganzen Tag, die Restaurants sind überfüllt, es gibt dumme Andenken zu kaufen, und das Ganze erinnert ein bißchen an die Sächsische Schweiz. Die Leute auch: geschwätziges, naturkneipendes Kleinbürgertum.

In Gavarnie hört die Straße auf, da macht der Weg eine Biegung, und nun liegt der Stolz der Pyrenäen vor seinem Publikum. Die Felswände stehen im gigantischen Halbkreis, oben liegt etwas Schnee, und das Ganze ist schön anzusehen. Aber mehr nicht – und warum so ein Geschrei daraus gemacht wird, weiß ich nicht. Um heranzukommen, braucht man eine Stunde, wie täuschen doch die Entfernungen im Gebirge und auf der See! und dann wird der Zirkus nicht etwa großartiger: da ist zwar ein hoher Wasserfall, aber weil die Vergleichsmaßstäbe fehlen, überwältigt er nicht. Brav und mit vorgeschriebner Begeisterung wandeln die Lourdes-Sachsen die klassische Strecke.

Ein Gutes aber hat Gavarnie doch gehabt. Ein französischer Zeichner schöpfte sich hier sein Pseudonym: Gavarni, Daumiers Zeitgenosse; Hunderte amüsanter Mode- und Theaterzeichnungen liegen uns vor. Er schrieb sich ohne e – bei mir hatten Gavarnie und Gavarni bisher immer in zwei verschiedenen Schubladen gelegen, so wie ja kein vernünftiger Mensch bei Goethes ›Faust‹ an eine geballte Hand denkt.

Im Dorf Gavarnie selbst fand sich ein Schild vor: »Zur Kirche, XVI. Jahrhundert«. Ah – wie gebildet! zur Kunstgeschichte gleich hier gradeaus . . . In der Kirche stand ein Priester und erklärte einer Reisegesellschaft eine Sammelbüchse. »Diese Kasse ist für die Errichtung einer Madonna bestimmt, die hier stehen und Gavarnie gegen die Lawinen schützen soll.« Wer etwas geben wolle . . . ? Spende man aber fünf Francs, so dürfe man sich in jenes goldne Buch eintragen. Alle spendeten, alle trugen ein. In der Ecke stand eine bescheidne Holzbüchse. Für die Armen. Keiner gab einen Sou.

Das Dorf war gesteckt voll, sie waren sämtlich da, die dagewesen sein mußten, kein Wagenplatz, kein Pferdesattel, kein Eselsrücken war frei.

[90] In Gèdre aber biegt ein kleiner Weg ab, und den geht niemand. fünf Stunden weiter liegt ein andrer Cirque, der von Troumouse, kein Auto fährt dahin, auf dem ganzen Spazierritt bin ich zwei Männern begegnet, und die kamen nicht von Troumouse. Es ist ein bißchen mühselig, und der Franzose wandert nicht. Daher fern von den großen Straßen wenig Wegweiser, wenig Fußwandrerkarten und himmlische Einsamkeit.

Ich bekam nur ein Pferd. Pferde können sich mit den Mauleseln dieser Berge an Sicherheit nicht messen. Das Pferd klettert, der Esel geht Schritt vor Schritt, wie in einer Ebene. Der Gang des Esels ist den holprigen Steinen und dem Auf und Ab der steilen Wege wesentlich angemeßner.

Ein paar hundert Meter ist da noch eine Straße, und weil man an ihr vor dem Kriege bis zum August 1914 gebaut hat, so kann man an diesem steinernen Kalender so recht sehen, wie es gewesen ist: erst ist sie geschottert, dann mit spitzen Steinen übersät, dann ist nur noch die Erde an den Seiten aufgeworfen, nun wird sie ganz schmal, ein Pfad bleibt übrig . . . Zum Bau von Straßen war damals keine Zeit mehr – sie mußten welche zerstören.

An Héas kommt man vorüber, einem kleinen Weiler. Schon vorher, im Steingeröll, steht eine heilige Jungfrau, weil sie dort den Schäfern erschienen ist und um ein Bildnis gebeten hat. Héas hat eine Kapelle. Diese Kapelle und ein Haus sind die einzigen Opfer einer Lawine, die da zu Tal kam. In dem verschütteten Haus starben Mutter und Kind; die Nachbarn hatten in der Sturmnacht nicht einmal den Zusammensturz gehört. Die Kapelle wird wieder aufgebaut; den Gottesdienst für die Handvoll Leute, die da noch wohnen, halten sie nebenan ab, in einer kleinen Stube.

Durch Pferdetrupps und Rindviehherden hindurch; die Pferde auf Urlaub wiehern dem, auf dem ich sitze, die neusten Nachrichten aus dem Gebirge zu, und das Pferd nickt mit dem Kopf: Ja, ja, die Zeiten werden immer teurer . . . Stunden und Stunden. Dann: Troumouse.

Wir stehen in der Mitte des riesigen Kessels. Er ist größer als der von Gavarnie, in seiner völligen Verlassenheit viel schöner. In der Mitte, in dieser ungeheuren Mitte steht die ›Vierge des Neiges‹, in seltener Instinktlosigkeit weiß gegen den hellgrauen Hintergrund gestellt und fast verschwindend. Das Standbild war ursprünglich aus dunkler Bronze, aber sie haben es angepinselt. Von einem schneebedeckten Gebirgspaß her weht ein eisiger Wind. Der Führer zeigt mir ganz hoch oben einen kaum erkennbaren Maultierpfad: da hinüber sind früher die Schmuggler nach Spanien gezogen. Unbegreiflich, wo Maultiere noch gehen können. Weit sieht man über die Berge; Felsen, etwas Schnee, und dieses stumpfe, büschelweis aufgesetzte Dunkelgrün, das in den ganzen Pyrenäen zu finden ist. Stille.

[91] Stunden und Stunden reiten wir zurück. Oh, der immer wiederkehrende Rhythmus der Bergausflüge! Die ersten zwanzig Minuten am grauen Morgen sind stumpf, der Leib wandelt, aber die Seele liegt noch im warmen Bett und schläft. Dann kommt das Erwachen, die Sinne werden munter; sehen und einatmen und hören und aufpassen, so geht das bis zum Höhepunkt, der meist kurz nach der Mittagszeit liegt. Dann fällt der Tag langsam ab – die Schatten werden länger, die Stunden auch; geht es denselben Weg zurück, so wundert man sich, wie man so lange hat gehen können und möchte ihn nun aber ganz bestimmt nie wieder gehen; alle Schwierigkeiten des Marsches sind auf einmal so groß, heute morgen war das doch ganz leicht . . . ? Und dann tiefer in die Täler hinunter, die Luft wird wärmer, die ersten Büsche stehen da, und die Bäche fließen breiter; die ersten Bauerngärten sind zu sehen, bunt, knallbunt, und in den Knochen ist jene angenehme Müdigkeit wie nach guter körperlicher Arbeit, als habe man ein nützliches Werk getan. Und dann kommen die schwersten hundert Meter: die letzten – und einen Todmüden siehst du ins Dorf einmarschieren. Sich dann am Geländer im kleinen Berghotel die Treppe hinaufziehen, die Beine sind so schwer, nein, danke, nichts zu essen . . . Schlaf.

Auf dem Ritt nach Troumouse hatte sich das Pferd öfter mit einem seltsamen Blick nach seinem Reiter umgesehn, aber ich hatte nicht darauf geachtet. Ich saß oben wie ein Stück Butter auf einer heißen Kartoffel und träumte vor mich hin. Ich dachte an allerhand, auch an einen meiner Freunde, der gar nicht wußte, daß er da hinter der Grenze im spanischen Gebirge lag und eigentlich eine Stadt war: Roda hieß sie. An ihn dachte ich, den ein Militärpferd zum Dichter geschlagen, aber weil er nur ›humoristische Kleinigkeiten‹ schreibt, darf man das nicht so sagen. Hopla – da stolperte das Pferd . . . Paß doch auf! Wieder sah sich das Tier um.

Und als wir zu Hause ankamen, in Gèdre, und ich grade abgestiegen war und neben dem Sattel stand und meine Beine zählte, die leblosen Klumpen –: da wandte das Pferd noch einmal den Kopf, sah mir mit großen, feuchten Augen genau auf die Nase und sprach mit einer tiefen, deutlichen Stimme:

»Ich habe ja schon viele Leute auf meinem Rücken getragen – aber eine so schweinemäßige Reiterei ist mir denn doch nicht vorgekommen –!«

Sprachs, gab ein Geräusch von sich und wandelte schwanzschlagend in den Stall.


Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 89-92.
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