[104] Ich will sie gewiß nicht alle aufzählen. Viele laufen von Norden nach Süden, so daß man bei der Durchquerung der Pyrenäen immer wieder neue Gebirgspässe übersteigen muß, die guten Straßen oder gar die Eisenbahnlinien liegen nördlicher, und wenn man sie benutzt, kommt man zu weit aus den Bergen heraus.
Steigt man ein wenig von den Tälern in die Berge, so liegt da die halbhohe Zone, die schon der Graf Russel so gerühmt hat, er, der die Pyrenäen erobert, kartographiert, nach allen Richtungen hin durchforscht hat. Dieser Bergstrich ist meist einsam, er entbehrt der großen pompösen Schönheiten, aber er hat seinen Stil für sich. Gebüsch kriecht am Boden, hin und wieder flattern noch Vögel, es ist noch nicht kalt und nicht mehr warm, nicht mehr bewachsen und noch nicht kahl, noch nicht eisbedeckt . . . Was den Schnee in den Pyrenäen anbetrifft, so ist das mit ihm nicht so wie in den Alpen, wo man mitten im Sommer viele Bergkuppen antreffen kann, die strahlend weiß sind. Ein Reiseführer rühmt, durchaus unironisch, den Pyrenäen etwas nach, was mit[104] einem einzigen Wort unsere leise Enttäuschung über die steingrauen Gipfel in einen schönen Euphemismus verkehrt: »Une neige discrète.« Weniger Diskretion wäre mehr.
Die Täler . . . Eins ist ihnen allen gemeinsam, und ganz besonders denen um Barèges und Luz herum, also ungefähr in der Mitte der Pyrenäen –: ihr starker Sinn für Abgeschlossenheit. ›Barèges den Leuten aus Barèges!‹ Und weil es ein altes soziologisches Gesetz ist, daß man Näherstehende viel mehr haßt als Fremde, die jenen gegenüber fast sympathisch erscheinen –: so hassen Rumänen die Österreicher, haben aber nichts gegen die Reichsdeutschen, und so verachten die Leute aus Barèges die, so ein Tal weiter wohnen, haben aber nichts gegen die durchreisenden Engländer. Aus verschiedenen Gründen, versteht sich.
Diese Bauern haben ihre alten Sitten, die zum Teil noch merkwürdig unberührt sind, ihre herkömmlichen Riten bei der Trauer, wo die Witwe eine Kapuze in der Kirche tragen muß, Stolz auf ihre Wäsche, die sie zu weben beginnen, wenn ein Kind geboren wird, ihre Lieder und Sprüche . . . Es gibt einen, der das seit Jahren systematisch beobachtet und aufgezeichnet hat – weil er nicht ehrgeizig ist, gibt ers nicht heraus, sondern sammelt lieber Schmetterlinge. Das ist der Schullehrer von Gèdre, ein Mann, dessen Manuskripte wie kalligraphiert aussehen. Das Werk nun auch noch verlegen . . . ? Die Welt interessiert hier nicht übermäßig.
Man findet keine besonders großen Vermögen; jedes Tal mag, wo keine Industrie ist, kaum fünf, sechs reiche Familien zählen – der Rest arbeitet, niemand geht müßig, aber niemand reißt sich ein Bein aus. Und die Leute sind auch so glücklich und zufrieden.
Was gemacht wird, wird ordentlich gemacht; jemand, ders verstand, machte mich auf die intensive Art aufmerksam, in der hier gemäht wird: so ein Feld sieht wie rasiert aus. Und hinterher treiben sie noch ihr Vieh über die Fläche.
Die Technik trifft man stellenweise . . . Pflüge sind zu sehen, von einer Primitivität, die erkennen läßt, wie sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende nichts gewandelt hat, und von einem Dampfpflug wird hier kein ehrlicher Ochse etwas wissen wollen.
Weil wir grade von Rindvieh sprechen: auch die Politik bringt diese Bauern nicht auf den Trab. »Wen wählen sie –?« fragte ich. »Den Sohn des alten Deputierten«, sagten die Kenner, und so war es häufig. Sie wählten oft die Person und den Familiennamen, nicht die Parole und die Partei. Der Vater hats gemacht, der Sohn wirds auch machen. Das ist politisch sicherlich rückständig, aber ebenso sicher immer noch besser, als ein abstraktes Listensystem, bei dem der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Steuerassistenten zur Wahrung seiner Berufsinteressen ins Parlament geschickt wird, ohne daß mans eingestehen will. Und so sieht das Parlament ja auch aus.
[105] Die Bauern in den Ostpyrenäen verstehen von der Schule her alle Französisch, aber sie sprechen daneben und unter sich ihren Lokaldialekt. Der ist in vielen Tälern ein seltsames Gemisch aus Französisch, Spanisch, Lateinisch und Arabisch, die Sarazenen sind einmal hier gewesen. »Harri!« treiben sie ihre Esel an, und das ist ein altes sarazenisches Wort. Die Dialekte sind von Tal zu Tal abgestuft, Aussprache und Lautnuancen, besonders in den Vokalen, verschieden. Sprechen sie französisch, so hat es die Färbung des Mididialekts, eine schauerliche Sache. Mit vielen »He« und singenden Tönen am Satzende ist der französischen Sprache das ausgetrieben, was sie so liebenswert macht: ihre Musik.
Wer die Alpen kennt, weiß, wie sich Bewohner benachbarter Täler voneinander unterscheiden und wie doch der Reisende die gemeinsamen Züge herausfinden kann, eben weil er den Kleinkämpfen ein unbeteiligter Zuschauer ist. Ist man aus dem Lande der Basken heraus und durchreist Béarn (ganz richtig, das Land mit der Sauce), Bigorre, die Vier Täler und später eine Landschaft, Roussillon geheißen – so hat man das typische Bild der Gebirgslandleute. So ein Gespräch wäre sehr Wohl auch hier möglich: »Der Rüderer! Das ist ja ein Fremder! Sein Großvater ist übers Dachauer Moos nach München gekommen!« Dixit Ludwig Thoma, und er wollte damit durchaus keinen Witz machen. Das gibts hier allenthalben.
Die Unterschiede dieser Täler sind um so großer, als sie verschiedene politische Verfassungen besessen haben, und viele früher frei und unmittelbar gewesen sind. Sie hatten schon im vierzehnten Jahrhundert eigene kleine Volksvertretungen, andere wurden feudal regiert, und alle wachten ängstlich über die Erhaltung ihrer föderalistischen Grundlagen. Sie haben sich nicht schlecht dabei befunden. Heute sind diese Zeiten vorbei, aber ihre Folgen sind im Familienleben und waren bis vor kurzer Zeit auch noch in der Tracht zu spüren.
Lichtlein im Tal . . . dabei sieht man immer einen Öldruck vor sich. Aber was ›Tal‹ ist, das empfindet man ganz, wenn man aus den Bergen herunterkommt, abgemattet, hungrig, es ist kalt – und da glänzen die ersten Lichter. Zum Beispiel: Barèges.
In Barèges habe ich drei Regentage verwartet, bis ich auf den Pic du Midi heraufreiten konnte – denn oben lag Neuschnee, und es war im Ort schon empfindlich kalt. ›Ort‹ ist übertrieben. Es ist eine lange Straße mit einem Badehaus und nicht viel Bemerkenswertem.
Nachmittags um halb vier ereignete sich auf dieser Straße ein Ereignis. Der Jäger war von der Jagd zurückgekommen und hatte seinen Hund neben sich, dem hing die Zunge aus dem Maul, und müde war er auch. Sie hatten sich einen Hasen besorgt, die beiden.
Vor der Tür des Fleischerladens aber saß Rudolf I., Schlächterhund und Straßenkaiser. Ob in der Mittagssuppe zu wenig Knochen waren,[106] ob der verdammte Rheumatismus die Laune des Alten beeinträchtigte, kurz: der Jagdpeter ärgerte ihn, er nahm sich kaum Zeit, zu knurren . . . dann sprang er an. Erst hörte man dieses schnurrende Geräusch, das entsteht, wenn zwei Hunde sich ineinander verbeißen – dann lag der Jagdpeter unter dem großen Doggenkaiser. Der saß auf ihm, als wollte er ihn ausbrüten. Der Jäger rief und schimpfte, er näherte sich mit der Flinte, aber nur des Eindrucks halber, den er auf Rudolf völlig verfehlte. Der Jagdgenosse lag immer noch im Straßenstaub, der Riese auf ihm, und der da unten telegrafierte seinen Herrn an: er wedelte. Er tat einem so leid . . . »Ich weiß ja, daß ihr da seid«, sagte der Wedel. »Schafft mir doch nur diesen Lümmel vom Hals – er beißt mich ja tot! Das geht doch nicht –!«
Die ganze Straße war in Aufruhr, es fehlte nicht viel, so hätte man den Gendarmen alarmiert. Keiner wagte sich an die Mordgruppe . . . schließlich stand Rudolf I. auf und schickte sich an, die Straße hinunterzutraben. »Huh!« schrien die Damen, und die Ladenfrauen gingen alle in ihre Läden, wie wenn Mikosch des Weges daherkäme. Der arme Jagdgehilfe stand auf, schüttelte sich, sah seinen Herrn an: »Das war ja eine schöne Bescherung!« – und dann gingen sie fort.
Rudolf I. spreizte die Straße herunter, den Schweif hoch erhoben, außerordentlich stolz und zufrieden – das wäre ja auch noch schöner! Einzug durchs Brandenburger Tor, Gladiatorenmarsch. Da aber geschah etwas ganz Seltsames. Ein Schlächterbursche sah ihn kommen, und als sie auf gleicher Höhe waren, warf er ihm mit erschreckender Schnelligkeit einen Besen auf den Rücken. Bautsch! Er hatte genau getroffen. Der große Hund machte einen Satz zur Seite . . . und nun war es auf einmal gar kein Held mehr, sondern ein lächerlicher Raufbold, der rechtens die Kehrseite voll bezogen hatte, weil er schwächere, ehrliche Leute malträtierte. Er lief schaukelnd und grollend davon, und alle Leute lachten ihn aus.
Nichts ist förderlicher für Diktatoren als ein Besen ins Kreuz.
Das ist in allen Tälern so.
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro