|
[300] Zimmer. Der Zeitungsleser im Schlafrock. Auf dem Tisch, auf Stühlen verstreut und zerknüllt, liegen Zeitungen aller Größen. In einer Ecke ein größerer Packen aufeinander geschichteter Zeitungen. An der Wand quellen aus einem Regal Zeitungen.
[300] Die Begleitmusik geht durch alle Möglichkeiten: vom Jazz bis zum Choral.
Du lieber Gott, so hör mein leises Flehen!
Tu auf den Packen hier heruntersehen!
Du lieber Gott, ich pfeif am letzten Loche:
das sind die Zeitungen von einer Woche!
Die muß ich alle, alle lesen:
Vom Bürgerkrieg bei Nord- und Südchinesen;
vom Turnerfest mit Grätsche und mit Kippe;
vom Flaggenstreit in Schaumburg-Lippe;
von Abegg, Lübeck, Ahlbeck, Becker;
von Schnillers Testamentsvollstrecker;
vom Prinz von Wales und von Richard Strauss –
das fliegt mir alles so ins Haus!
Ich kaufs auch noch. Sobald ichs seh,
fixe Idee:
»Acht-Uhr-Abendblatt! Acht-Uhr! B.Z.! Die Nachtausgabe!«
Wo nur eine Zeitung ist, da trabe
ich hin – aus Gier
nach Papier – immer nach Papier –
bleib auf der Straße stehn und lese hier:
Die westliche Ostsee ziemlich bewegt;
Pola Negri endgültig trocken gelegt;
Churchill gestürzt – die Kammer tobt;
der Papst mit Mary Wigman verlobt;
(das ist ihm recht!) – Sturm auf den Azoren;
Ludendorffs Dackel hat seinen Schwanz verloren;
in Grönland Badehosenhausse;
Pallenberg hundertmal in einer Posse;
Verfilmung des Dramas Ain und Kabels;
Prämiierung des kleinsten Damennabels;
Mussolini und das schwarze Hemd seiner Amme –
Nachrichten, Nachrichten, Telegramme, Telegramme, Telegramme –
Jazz
Was geht denn mich das an?
Das geht mich gar nichts an!
Das geht mich gar nichts an![301]
In den Beilagen raschelt und zischelt der Wind –
Ich bin ein armes zerlesenes Kind . . .
Hat keiner mit mir Armen
Erbarmen?
Man sagt von IHM, daß ER doch auch nen Sohn hat . . .
Das sind die Zeitungen von einem Monat!
Wenn ich sie seh: mich schaudert und mich graust –
was kommt da noch auf mich herabgebraust?
Choral
Befrei mich Du vom irdischen Bösen.
Warum muß ich denn Silbenrätsel lösen?
Was kostets mich für lange Stunden
bis ich: »Mätresse unter Ludwig XVI.« gefunden –
Auflösung: »Nichtswürdig ist die Nation.«
Oder: »Du sollst nicht töten, spricht der Gottessohn!«
Es ist manchmal ein Kreuz mit Deinem Wort!
nimm doch die Kreuzworträtsel fort . . .
So plätschert das tagaus, tagein,
auf mich, den armen Leser herein –
Es regnet Zeitungen
Papier! Papier! Von welchem Riesenbaume
verflattert das in unserm Erdenraume?
Papier! Papier! Genug! Genug des Segens!
Ertränk mich nicht, du Flut des Zeitungsregens!
Marseillaise
Hier sind die Fahnen aller Staaten!
Allons, journaux de la patrie!
Ich kann in Zeitungen schwimmen – in Zeitungen waten –
aber ohne Zeitungen sein: das kann ich nie!
Wie sie mich quälen,
töten beinah –
Und wie sie mir fehlen,
wenn sie nicht da . . . !
Was soll mir das? Was hats für einen Sinn?
Mein ganzes Leben ging in Kleinigkeiten hin . . .
Am jüngsten Tage des Gerichts,
da werd ich sehn:
4. Paukenschläge
Ich kam zu nichts.[302]
Zerteilt. Zerspielt. Zerspellt. Zerzettelt.
Mein Lebtag hab ich nur um eins gebettelt:
um Ruhe.
Du gabst sie nicht. So muß ich dienen,
als Sklave aller Rotationsmaschinen.
Du lieber Gott, gebleicht ist all mein Haar.
Hier sind die Zeitungen von einem Jahr . . . !
Du hast mich ihnen gänzlich preisgegeben –
war das ein Leben – das mein Leben –?
Ich merkte, welche Tageszeit grad war,
nur am ›Matin‹, ›Paris-Midi‹, ›Le Soir‹...
Bis in die letzten Winkel meines Heims
kam deine ›Zeit‹, ›Le Temps‹, die ›Times‹ –
Verflucht die Bilder, die Plakate!
die Leitartikel, Inserate!
die Neuigkeit, die, kaum geboren, alt!
das Blatt am Baum – der ganze Blätterwald!
Verflucht! Verflucht die Menschenfibel!
verflucht die Inseratenbibel!
Ruhm: Durch die Zeitung. Heirat: durch die Zeitung.
Krieg: Durch die Zeitung. Friede: durch die Zeitung.
Nimm sie von mir! Die Zeitung triumphiert!
Totenstille. In der Musik aufgelöste Akkorde.
Ruhe nach einem Sturm, ganz sanft.
Es hilft ja nichts.
Du bist ja sicher
selber
abonniert . . .
mit ausgestreckten Armen nach oben – Vorhang
Buchempfehlung
Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.
110 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro