Und wer spricht für euch?

[351] Wenn deutsche Minister Reden halten, wenn Herr von Hindenburg in Tannenberg die Fensterscheiben von Locarno einschlägt, wenn deutsche Richter Recht sprechen, dann kehrt immer, immer ein Satz wieder, – und der heißt so:

»Das deutsche Volk ist einmütig des Glaubens . . . «

Dieser Satz ist eine Anmaßung und eine Lüge dazu. Es gibt kein ›einmütiges deutsches Volk‹.

Es geht ein tiefer Riß durch die deutsche Nation, und niemand ist heute berechtigt, als Sprecher für das gesamte Volk aufzutreten.

Wir nicht: denn unserer Friedenssehnsucht, unserer schärfsten Ablehnung des Soldatenmordes und der Kriegsschlächterei stehen kräftige und herrschende Schichten des deutschen Volkes gegenüber, die den Krieg und die Anarchie zwischen den Staaten wollen.

Die andern nicht: denn unmittelbar neben ihren Trompetenfanfaren, ihren Posaunenstößen und ihrer Lust an viehischer Unterordnung und an viehischer Überordnung gibt es uns.

Es gibt zwei Deutschland.

Wir verbitten es uns aber, daß irgend einer – sei es der Präsident oder ein Minister oder ein Richter – seine und nur seine Auffassung als die allein gültige ausschreit. Dazu hat er nicht das Recht, – niemand hat ihn dazu beauftragt.

[351] Es ist noch gar nicht einmal heraus, wer in der Minderheit steht. Uns steht die große Presse nicht in dem Maße zur Verfügung, wie wir das wünschen, Hunderttausende von Arbeitern haben weder die Zeit, noch die Möglichkeit, noch die anständige Volksschulbildung, die nötig wäre, um ihrem Willen wirksamen Ausdruck in der Öffentlichkeit zu verschaffen; die Diktatur der Bourgeoisie, unter der wir leben, verhindert jene der Wahrheit entsprechende Volksvertretung, von der die Demokratie faselt. Sie ist nicht vorhanden.

Wir wissen es und haben es immer offen gesagt: Wir allein sind nicht das deutsche Volk. Dessen Interessen sind gespalten: da gibt es welche, die verdienen an Krieg und Kriegsgeschrei; da gibt es eitle ›echt deutsche Männer‹, die sich den Gehrock fester ziehen, wenn sie ein richtiger Generalfeldmarschall angesprochen hat; da gibt es in allen Kirchen Kultusbeamte, die das Volk gern so dumm halten möchten wie sie selber schlau sind, . . . niemand von uns Pazifisten kann diesen in sich so ungleichartigen Volkskörper restlos repräsentieren.

Aber die andern dürfen das auch nicht.

Herr von Hindenburg hat nicht das Recht, für das ›einmütige deutsche Volk‹ zu sprechen, denn das steht nicht geschlossen hinter ihm. Wir sind auch noch da. Wenn irgend ein kleiner Landrichter, irgend ein Reichsgerichtsrat die begrenzten Anschauungen seiner Kaste, seine Interessen und seine Vorbildung zum Angelpunkt seiner Welt macht, so haben sie dabei den Namen des deutschen Volkes nicht zu mißbrauchen, – das ist eine Mißachtung der mühsam erkämpften Wahrheit von Millionen, die der Präsident, der Richter und der feierlich daherredende Minister ja gar nicht um ihre Meinung gefragt haben! Haben wir sie beauftragt? Sie gehen über uns hinweg, als wären wir nicht vorhanden.

Wir sind aber vorhanden.

Ich habe Hindenburg nicht gratuliert. Ihr –?

Und es muß bei allen offiziellen Gelegenheiten – und grade da – zum Ausdruck gebracht werden, daß unser Wille zum Frieden und zur Völkerversöhnung vorhanden ist, daß ein erheblicher Teil Deutschlands kämpft, um nicht mehr kämpfen zu müssen – daß uniformierte Schießbudenfiguren nichts mit uns zu tun haben, – mit uns nicht! Wir haben allerhand Mittel.

Man kann nationalistische Feiern, auf denen Vertreter von Stadt und Staat den Volkswillen umlügen, sabotieren; man kann ihnen fernbleiben oder man kann sie stören (nur keine falsche Rücksicht!) – auf alle Fälle aber muß immer, in Versammlungen und in Zeitungen, zum Ausdruck gebracht werden, daß der aufgeklärte deutsche Arbeiter, daß die radikal denkenden Angestellten von den Prahlhänsen nicht um ihre Ansicht gefragt worden sind. Laßt euch nicht den Mund verstopfen! Euch gibts auch noch! –

[352] Das gilt besonders für alle Beziehungen nach dem Ausland hinüber.

Da haben sie so ein falsches Schamgefühl erfunden: man dürfe vor Fremden niemals die volle Wahrheit sagen, das schicke sich nicht; und man vergebe sich da etwas, und man solle doch die schmutzige Wäsche im Hause waschen. Das ist dummes Zeug.

Ich werde mich in Paris gewiß nicht auf die Redaktion einer nationalen Zeitung begeben, um den dort sitzenden Schreibern des Petroleumkapitals und des Militärs mitzuteilen, was bei uns zu Hause in der Reichswehr gespielt wird. Es ist für uns Pazifisten aller Länder schon nicht immer angenehm, zu sehen, wo unsere Artikel im Ausland erscheinen und wer sich ihrer für die eignen schmutzigen nationalen Zwecke bedient.

Aber dieser Übelstand muß in den Kauf genommen werden. Taktik ist wichtig – wichtiger ist die Wahrheit. Und wenn ich heute mit radikalen Pazifisten Frankreichs zusammen bin, so sage ich diese Wahrheit und schreie sie heraus, ganz gleich, ob Schlappschwänze auf beiden Seiten diesen Schrei als stillen Vorwurf empfinden und gereizt widersprechen. Wir erkennen die ›Ehre des Vaterlandes‹ nicht an, wir erkennen die ›Heiligkeit der Fahne‹ nicht an; unser Vaterland ist ein geeintes Europa, aber nicht ein durch kaufmännische Interessen zerklüftetes Deutschland.

Es gilt, einer Internationale der Blut-Generale die wahre Internationale der Pazifisten gegenüberzusetzen. Wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Schweigt nicht! Laßt euch nicht an die Wand drücken! Es ist nicht wahr, daß ›das deutsche Volk einmütig gegen die Kriegsschuldlüge steht‹. Es gibt nur eine einzige Kriegslüge: die des ›Vaterlandes‹, das sich ein Recht anmaßt, seine Steuerzahler zum Krepieren in den Ackergraben zu schicken.

Und es gibt zwei Schichten in jedem Volk, – da läuft die wahre Grenze, nicht an den lächerlichen Grenzpfählen entlang: die Ausgenutzten; die, die ihre Arbeit für Tuberkulose, schlechte Wohnung und ungenügende Ernährung verkaufen müssen – und die, die davon profitieren. Mit der Lyrik von Tannenberg haben wir nichts zu tun – sie ist uns ferner als der saubere englische oder französische Friedensfreund. Die festredenden Bürgermeister und Oberpräsidenten aber sollen die Ohren aufsperren. Dann werden sie ein Brausen vernehmen und ein Rufen: »Nie wieder Krieg –!« Den Ruf des andern Deutschland.


  • · Ignaz Wrobel
    Das Andere Deutschland, 22.10.1927.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 351-353.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon