Was weiß der Franzose vom Deutschen?

[280] Es ist hier neulich davon die Rede gewesen, welche gemeinen Hetzbücher gegen Deutschland in Frankreich erscheinen, heute noch erscheinen. Die vernünftigen Franzosen beklagen das, und man darf die Wirkung dieser Unsauberkeiten nicht überschätzen. Nun gedeihen aber nationalistische Sumpfblumen am besten auf dem Boden der Ignoranz, und wie sieht der Boden aus?

Wie männiglich bekannt, hat das französische Volk nicht gar so viel Interesse für das, was außerhalb seiner Grenzen vor sich geht; es strebt vielmehr nach seinem Mittelpunkt und nimmt gelassen zur Kenntnis, was ›là-bas‹ geschieht. Das gilt nicht nur für Deutschland – wenn auch die junge Generation Frankreichs wenigstens schon ein bißchen reist, gar so schlimm ist es auch damit nicht – und ›là-bas‹ ist das was die Griechen mit ›Barbaren‹ bezeichnen – übrigens ohne jede böse Nebenbetonung. Was also weiß der Franzose vom Deutschen?

Ich will einmal so fragen: Was kann er eigentlich wissen? Und woher soll er es wissen? Um heute nur eine Seite der Sache anzupacken: aus seinen Zeitungen erfährt er gewißlich nichts.

Die große pariser Informationspresse mit den Auflagen, die zählen, beschäftigt sich manchmal tagelang mit Deutschland nur in winzigen kleingedruckten Meldungen von Überschwemmungen, dreizeiligen[280] Unglücksfällen aller Art, einem Mord und irgendeiner aus dem Zusammenhang gerissenen Depesche vom Zusammentritt des Kabinetts. Selbst einem gelernten Deutschen ist es nicht möglich, sich aus diesen kümmerlichen Meldungen ein Bild zu machen.

Auszunehmen ist hier der ›Temps‹, der brillant informiert wird – (von der Färbung, vom politischen Gehalt dieser Aufsätze sehe ich hier ganz ab). Aber der Rest ist, wenn man von der Tagespolitik absieht, geradezu kläglich zu nennen.

Es ist eine Tragik, daß diese beiden großen Völker Nachbarn sind. Wären sie es nicht –: vielleicht liebten sie sich. So aber – –

So aber weiß der Franzose vom Deutschen noch weniger als der Deutsche vom Franzosen; bei uns befaßt sich doch wenigstens die Allgemeinbildung rein quantitativ mit Frankreich ziemlich stark. Und weil bekanntlich die sogenannten ›unpolitischen‹ Aufsätze viel mehr wirken als Telegramme über Kammerdebatten, weil sich die Masse der Zeitungsleser fast immer dem Amüsanten, dem Bunten zuerst zuwendet, so geht Deutschland dabei in Frankreich fast leer aus. Zunächst einmal ist die Zahl der laufenden Aufsätze über deutsche Aktualitäten, die nicht der Politik angehören, sehr gering. (›Comoedia‹ beschäftigt sich oft und mit einem gewissen guten Willen mit dem deutschen Theaterleben.) Aber weil die große französische Presse das Feuilleton in ganz anderer Weise pflegt, als wir das gewohnt sind, und für lange unaktuelle Berichte wenig Raum hat, so weiß der Leser des ›Petit Parisien‹, des ›Matin‹, des Abendblattes ›Intransigeant‹, des ›Paris-Soir‹ wenig von uns oder gar nichts.

Das ist schade.

Denn wäre dem anders, so gediehen eben Lügenblüten nicht so üppig, wie sie heute gedeihen können – zum Glück sind sie rar. Zu viel Franzosen haben den Deutschen während des Krieges gegenüber gelegen, viele waren in Gefangenschaft, so daß der Deutsche nicht mehr schlechthin der Mann ist, der Sauerkraut frißt (was er übrigens niemals in der pariser Quantität getan hat). Aber einem Menschen, den man nicht kennt, traut man schnell das Böse zu, schneller als das Gute, und wenn man von den wahrhaft Gebildeten absieht, ist die Kenntnis deutscher Literatur, deutschen Lebens, deutscher Lebensauffassung in Frankreich gering zu nennen.

Ich halte diesen Zustand für gefährlich. Daß Schulaufklärung allein nicht hilft, haben wir 1914 und während der Monate der Kriegspsychose gesehen – daß sie, wahrhaft pazifistisch geführt, doch etwas helfen kann, halte ich für sicher.

Aber meistens gelangt ja vom Innenleben eines Volkes nur das über die Grenze, was die Gerichts-Berichterstatter aufregt – was vor dem Kriege Eulenburg in Frankreich gewesen ist, das war dann Haarmann – und zur Zeit ist es außerhalb der Politik gar nichts. Bis . . .

[281] Bis jemand die Trompete bläst und tausend Verleumdungen von den Bäumen wehen. Wenn diese Blätter erst einmal auf die Frühstückstische fallen, ist es zu spät.

Man kennt in Frankreich wenig von dem, was in Deutschland vorgeht. Selbst die gut geleitete ›Action Française‹ bringt wenig Gescheites über Deutschland, was sie doch, unbeschadet ihrer Haltung, tun könnte. Käme Reinhardt nach Paris –: er würde sich über die Tiefe des Mißverständnisses wundem, denen er außerhalb der Dinerstunde begegnen würde. Und die kleinen deutschfreundlichen Wochenschriften, die wahrhaft pazifistischen Revuen – sie allein schaffen es nicht. Die große französische Presse telegrafiert. Aber sie berichtet wenig. Und dann wundern sich die deutschen Vertreter bei Handelsverträgen, bei Zusammenkünften, auf Reisen, wenn die Räder nicht ineinandergreifen. Europa –?

Es gibt hüben und drüben viele Leute, die wissen in Tibet und in Japan besser Bescheid als in dem schicksalsvollen Land jenseits des Rheins.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 17.08.1927.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 280-282.
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