|
[310] Wenn sich zwei Jungen kabbeln –: das ist einfach. Wenn sich aber zwei Klassen kabbeln –: was ist dann –?
Dann kann jeder Junge, der klug ist und nicht nur ein Hammel in der Herde, so recht sehen, wie merkwürdig Menschen sind, die eine Gruppe bilden.
Jeder von euch weiß, daß man nur ein halbes Jahr in derselben Gemeinschaft zu leben braucht, um folgende Entwicklung durchzumachen:[310] Erst ist man schüchtern und ein ›Neuling‹, dann gewöhnt man sich; dann kann man mitreden; dann ist man ›alter Mann‹ – und langsam, langsam überkommt jeden, der lange dabei ist, das Gruppengefühl: »Wir von der Unter-Tertia« . . . darin ist so viel Stolz, – ja, worauf eigentlich?
Es ist der Stolz auf die Gruppe. Jeder, ausnahmslos jeder, der in einer solchen Gruppe, in einer Schulklasse, in einem Tennisverein, in einem Ruderklub lange sitzt, bekommt dieses Gruppengefühl, und das ist ja soweit auch ganz in Ordnung. Die Gruppe, der Verein, die Klasse –: sie haben ihre bestimmten Eigentümlichkeiten, sie lachen vereint, sie hassen vereint, sie lieben vereint – sie leben zusammen, sie haben sogar dieselbe Sprache; da gibt es kleine Witze, die nur die Angehörigen der Gruppe verstehen, und alles das bindet sie fest zusammen. Wenn sie anständige Kerle sind, so treten sie auch für einander ein, alle für einen, einer für alle – dergleichen ist noch gut und bejahenswert und richtig. Aber, ich denke, man sollte das alles nicht übertreiben.
In jedem Verein sitzt mindestens einer, der den ›Vereinsvogel‹ hat, – denkt nur an den Quartaner Stutz aus Wolf Zuckers schöner Geschichte ›Der Bund der Sieben‹, die ihr sicherlich in diesem Buch schon gelesen habt –, einer, der gewissermaßen ununterbrochen die Vereinsfahne schwingt (auch, wenn gar keine da ist), einer der ›stolz‹ ist, daß er der Gruppe angehört. Und hier liegt wirklich eine große Gefahr.
Das fängt mit der Verachtung der Konkurrenz an. »P! Die von der Quarta!« – »Hö! Die vom Ruderklub Grün-Weiß!« – »Pö! Die Herren Fußballer! Wir Schwimmer dagegen – –!« Und das ist falsch.
In der Unter-Tertia zu sitzen, ist noch kein Verdienst. Denn dafür kann man nichts. Grade in diesem Schwimmklub zu sein und nicht in jenem Tennisklub – wer kann dafür? Die wenigsten überlegen sich, daß sie damals eingetreten sind, weil . . . ja, weil Willy auch drin war und noch andre Freunde . . . oder weil sie es zur Schwimmanstalt näher hatten als zum Tennisplatz . . . und aus tausend andern Gründen. Wenn das aber eine Weile so geht, dann entwickelt sich ein ›Stolz‹, der leicht zur Afferei ausarten kann. Und zu schlimmerem.
Die deutsche Nation ist eine Nation der Vereine – es gibt wahrscheinlich in keinem Lande der Welt so viel Vereine wie bei uns. Und jeder dieser Vereine hat seinen ›Stolz‹ und seine Fahne; seine Vorsitzenden und seine Sekretäre; seine Vereinsabzeichen und seine besondere Vereinssprache. Das verführt dazu, daß jeder Verein glaubt, er sei ganz allein auf der Welt. Es vergeht nicht lange Zeit, und er behandelt die Leute aus den anderen Klassen, den andern Vereinen, den andern Klubs wie Aschantineger oder Leute von einem andern Planeten. Sie tun alle so, als lebten sie auf einer Insel. Falsch: sie leben in einer Gemeinschaft, mit den andern.
Das fängt auf der Schule an.
[311] Da gibt es die üblichen Kämpfe zwischen Klasse und Klasse; zwischen Klub und Klub; zwischen Verein und Verein, und es ist wie ein Rausch, der den einzelnen dabei überfällt. Er verliert sich an die Masse, der er gerade angehört; er verschwindet als Einzelwesen und ist auf einmal bloß noch ›Mitglied‹. Untertertianer, Klubangehöriger. Und das ist eine verlogene Sache.
Es gibt eine Menge Jungen, die würden nie, niemals Sachen tun, die sie unbedenklich machen, wenn es sich um die Klasse, um den Verein, um den Klub handelt.
Sie glauben aber: wenn man einer Gruppe angehört, dann darf man das. Man darf es nicht, wenns unehrlich ist. Denn die Gruppe ist niemals eine Entschuldigung für eine schlechte Handlung. Entweder man darf stehlen, oder man darf es nicht. Darf mans nicht – dann darf mans auch nicht, wenn man damit dem Verein einen Dienst erweist. Aber es gibt eine Sache auf der Welt, die alles entschuldigt, scheinbar entschuldigt: das ist der Massenrausch.
Herr Schulze ist ein friedlicher Mann – er tut keinem was.
Wenn aber derselbe Herr Schulze auf der Straße in einen Auflauf gerät, der sich um einen gefaßten Zechpreller gebildet hat, sich von Minute zu Minute vergrößernd, – dann kann der Mann schreckliche Sachen begehen. Die Gruppe wird groß und größer, Neugierige, Beteiligte und Unbeteiligte, gesellen sich zum Wirt, zum Zechpreller, ein Schutzmann . . . Und plötzlich ruft jemand aus dem Haufen: »Haut ihn –!« Der Mann, der da aus dem Restaurant gelaufen ist, ohne zu bezahlen, hat dem Rufer gar nichts getan; der ist bloß aufgeregt, weil die andern aufgeregt sind; weil der Kellner so schreit, weil der Wirt so schreit, weil der Schutzmann den Mann am Kragen hat – da ruft er das: »Haut ihn –!« Und plötzlich gerät die Masse in Schwung, die hinten stehen, schieben nach vorn, die Vorderen, die ursprünglich gar nicht hauen wollten, werden näher auf den Übeltäter hingeschoben . . . der macht eine ungeschickte Bewegung, und schon hat ihm jemand ein paar hinter die Ohren geschlagen. Und nun gehts los. Und dieselben Leute, die noch vor fünf Minuten ganz friedlich auf der Straße gegangen sind, brüllen plötzlich alle durcheinander und schreien und fuchteln mit den Armen . . . und hauen alle zusammen auf einen Wehrlosen ein, der ihnen doch gar nichts getan hat. Der Massenwahnsinn hat sie angesteckt.
Und dieser selbe Massenwahnsinn ›hat‹ die Leute, wenn sie in den Versammlungen schrein; wenn sie Demonstrationen machen; wenn sie in Massen einem zujubeln . . . einer entzündet sich am andern, einer wird vom andern beeinflußt – es ist wie ein elektrischer Strom, der die Leute durchzuckt. Das ist sehr, sehr gefährlich.
[312] Es ist nämlich dann sehr gefährlich, wenn diese menschliche Eigenschaft von kalten und schlauen Leuten ausgenutzt wird – denn man kann zwar einer Masse schwer widerstehen, aber man kann, wenn man klug ist, sie so lenken, daß sie das gar nicht merkt! Und dann wehe den Opfern!
Der kleine Straßenauflauf bildet eine Masse, und solche Massen sind in fast allen Fällen wie die Urmenschen oder wie die Tiere: sie haben nur einige wenige Vorstellungen, und zwar nur ganz einfache; sie geben jedem äußern Reiz nach, und wenn einer gut brüllt, brüllen sie: »Ja!« – und wenn ihnen die Nase an einem andern Mann nicht gefällt, dann rufen sie »Haut ihn!« – und das ereignet sich alles auch dann, wenn es lauter kluge Leute sind, die die Masse bilden, denn sie sind nur einzeln klug; im Augenblick, wo sie sich zusammenballen, ist es aus mit der Klugheit, und sie benehmen sich alle zusammen wie die wilden Kanaken. Das ist ein allgemeines Gesetz, auf der ganzen Erde.
Die Untertertia bildet keine Masse – die ist eine höhere Form der Masse: sie ist eine Gruppe. Aber auch diese Gruppen unterliegen alle, alle gemeinsamen Gesetzen, und davon gibt es keine Ausnahme. Ein Schüler macht, wenn einer plötzlich niesen muß und dabei so ulkig schnauft, zweierlei: je nachdem er das zu Hause sieht, wo er allein ist – oder wenn es in der Klasse geschieht, wo achtundvierzig Augen gespannt auf alles aufpassen. Da ist eben eine andere Luft.
Der Tennisklub ist eine Gruppe. Der Fußballklub ist eine. Der Schwimmverein ist eine. Und die Führer solcher Gruppen verfallen fast alle demselben Fehler: sie machen sich wichtig.
Sie glauben, der Verein, der Klub, die Klasse seien nur ihretwegen da – und nicht sie wegen des Vereins. Sie kriegen mit der Zeit eine ›Würde‹ (wenn sie dumm sind) – sie pusten sich auf – sie sehen erst einmal auf alle Mitglieder herunter, die keine Führerstellung haben – und alle zusammen verachten wieder die Angehörigen der andern Gruppen.
Und von hier bis zur Kriegshetze ist nur ein Schritt.
Wer die Szenen der allgemeinen Betrunkenheit im Jahre 1914 erlebt hat, der weiß Bescheid. Die Leute, die da auf den Straßen herumgegangen sind und gebrüllt haben, haben überhaupt nicht gewußt, worum es ging: noch vierzehn Tage vorher haben sie an nichts Böses gedacht. Aber die Zeitungen hatten es so gesagt und hatten sie beim Wickel gefaßt, wo die ›Massenehre‹ sitzt. Und auf einmal waren alle Franzosen niederträchtige Kerle und alle Engländer Krämer und alle Japaner Affen – und es gab sogar ein paar Tage, da trugen die Leute auf den Straßen jeden Japaner, den sie zu fassen kriegten, auf den Schultern umher – sie glaubten nämlich, die Japaner würden mit Deutschland gehen . . . Die kleinen Japaner haben nicht schlecht gelacht, nein, sie haben nur höflich gelächelt . . . So betrunken sind damals die Menschen gewesen.
[313] Einer Gruppe anzugehören – und sei es das Vaterland – das ist noch gar nichts. Man muß erst einmal diese Gruppe, besonders, wenn sie groß ist, genau kennen; man muß auch etwas für die Gruppe getan haben, also nicht nur Steuern gezahlt haben; man muß auch die andern Gruppen, die man da bekämpfen will, wirklich kennen. Davon ist bei Kriegsausbruch keine Rede gewesen – von einer Million Deutscher haben noch nicht zehn Leute die wirklichen Kriegsgründe und Kriegsursachen wirklich gekannt. Und auf der andern Seite ist das genau so gewesen. Das hat zwölf Millionen Menschen in Europa das Leben gekostet.
Seid nicht stolz, der Untertertia anzugehören. Seid stolz auf euch selber – wenn ihr Ursache dazu habt. Und werft euch nicht in die Brust und ruft nicht: »Wir von der Untertertia!« Und seid keine Hammelherde, die hinter einem Leithammel herläuft – sondern bleibt ruhig und gelassen und behaltet klaren Kopf, wenn eine Masse tobt.
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro