Der darmstädter Armleuchter

II. Le comique voyageur

[151] Und daraus ergibt sich völlig unzweideutig zweierlei, was künftige Kritiker wohl berücksichtigen mögen: Erstens, daß Graf Keyserling bis heute trotz aller Wirkungskraft und sogar Popularität seiner Persönlichkeit nahezu ebenso unverstanden ist, wie es Nietzsche bei Lebzeiten war. Und zweitens, daß er nicht darunter leidet. Er ist wirklich ein Einsamer, wesentlich; sein Verhältnis zu den andern ist ein rein schenkerisches, er bedarf ihrer nicht. Es wäre gut, wenn in Deutschland endlich begriffen würde, daß es auch solche gibt.

Mitteilungen der Schule der Weisheit, Darmstadt, Deutschsprachige Ausgabe


Auf den Tagungen der Schule der Weisheit sprechen neben dem Philosophen, dessen Verlag einen Armleuchter rechtens im Wappen führt, ebensolche Schwätzer wie er, sowie ernste und vernünftige Leute. Aus den gedruckten Berichten ist eine geistige Einheit dieser Vorträge nicht zu ermitteln. Sie muten den Außenstehenden wie ein überflüssiges Gesellschaftsspiel an; die Möglichkeit, daß die Lokalatmosphäre einen andern Eindruck hervorruft, soll offengelassen werden. Nun ist das aber in Deutschland so, daß auch nur etwas hervorragende Geister entweder allein bleiben oder ihre Anhänger zur Sektenbildung verführen. Das insulare Nebeneinander der zehntausend ›Meister‹, die Deutschland aufweist, ist grotesk; jeder in seinem Zeltlagerchen unfehlbar und ein kleiner Papst; jeder angebetet und sinnlos, weil beziehungslos verehrt, und jeder von dieser faden und fatalen Ausschließlichkeit erfüllt, die den falschen Fanatiker vom echten unterscheidet. Die Qualität der Gefolgschaft ist die beste Kritik des Führers.

Wenn über Keyserling nichts vorläge als die Hefte ›Der Weg zur Vollendung‹, so genügte das zur Information reichlich. Ihr Eindruck ist vernichtend.

Die Aufsätze des Schriftgelehrten verdienen keinerlei Kritik. Aber was er da über sich und sein Werk zusammenschreiben läßt – im Sinne von: faire und laisser –, bewirkt in unsereinem das Gefühl, das entsteht, wenn einer auf dem Konzertpodium steckenbleibt. Man schämt sich für ihn.

Am lustigsten ist seine Mischung von belehrender Weisheit und ungezogener Dreistigkeit, die dem Mann nach allem, was wir über ihn zu hören bekommen haben, eigen sein muß. ›Der Gegensatz ist für ihn nicht das letzte, ebensowenig wie der Kontrapunkt für einen Beethoven das letzte war.‹ Das ist bar jeden Sinnes – aber möge er.[151] Daneben: »Und selbstverständlich ist es, daß Graf Keyserling sich hier jedes Dreinreden verbittet.« Der Philosoph Husserl! Nehmen Sie Ihren phänomenalen Bauch zurück! Cassirer! Hat der Kerl wieder seinen Logos nicht geputzt! Verfluchte metapherdammte Himmelhunde! Vizefeldwebel der Weisheit, Untroffzier oder Schersant – das ist hier die Frage.

Über die Ausdrucksweise des Mannes, die wie jeder Stil Gedanken und Gedankenlosigkeit verrät, ist kaum noch zu reden. » . . . Keyserling habe ihm gesagt, er fände die Stimmung auf dieser Tagung um 1000 Prozent gehobener . . . « das gibts nur noch bei Roda Roda, wo ein Wendriner, von seiner Gattin auf die Schönheit des Sonnenunterganges am Meere aufmerksam gemacht, antwortet: »Na, und der Posten Möwen ist gar nichts –?«

Nichts komischer, als wenn ein Mittelmäßiger Genie posiert. »Es ist nicht zu glauben, was mir monataus, monatein zu lesen zugemutet wird.« Und uns erst –! Dabei hat er es noch gut: er braucht wenigstens nicht seine eignen Schriften zu lesen . . . Immer protzt er, und immer will er imponieren. Da hat er ein Buch aufgetrieben, das ihm die philosophischen Grundlagen des Faschismus zu enthalten scheint. Folgerung: »So war es denn wieder ein Philosoph, zu dem die spätere politische Wirklichkeit als zu ihrem geistigen Vater aufzublicken hat.« Dahinter die unsichtbare Imponierklammer? »Achtung! Ich bin auch ein Philosoph. Also . . . «

Für die Anhängerschaft ist offenbar nichts zu billig. Sie wird zensiert, angeschnauzt, geschurigelt und kommandiert – wahrscheinlich tut das den Leuten wohl. Der alte Trick, die eigne Kleinheit durch die Größe des Vorzimmers zu verdecken, wird auch hier angewandt. Er schreibt nicht alles ›persönlich‹ – manches läßt er auch durch seine Leute machen. Von einem Buch des seligen Oscar A. H. Schmitz: » . . . enthält u. a. den folgenden Passus, welcher dem Grafen Keyserling besondere Freude bereitet hat, weil er seine von ihm persönlich gemeinte Stellung in der Schule der Weisheit sehr glücklich formuliert.« Schmitz, einen rauf! Kann er aber nicht – es sind lauter Primusse.

Von den dienenden Schreibern wird Keyserling behandelt wie der liebe Gott, Luxusausgabe. »Wir sehen uns gezwungen, jetzt auch schriftlich kundzugeben, was bisher in dieser Form nur mündlich verbreitet wurde: daß Graf Keyserling außerordentlich dadurch gestört wird, wenn er ohne Voranmeldung eine Woche vorher Besuch erhält.« Abgesehen davon, daß diese Schüler der Weisheit keinen Satz schreiben können, ohne einen schweren Fehler der Dummheit zu machen: das ist der typische Sektensatz. Genau so hat es um Rudolf Steiner geklungen; diese respektvolle Behutsamkeit auf Filzparisern – tritt nur einmal kräftig mit dem Stiefel auf, und Größe und Isoliertheit zerstäuben wie Mottenpulver.

[152] Aber sage mir, wen du zu Gegnern hast, und ich will dir sagen, was du für ein Kerl bist. Dieser zum Beispiel hat Blühern.

Das ist der Philosoph der berliner westlichen Vororte, in denen die Kleinbürger wohnen, ein ewiger Steglitzer. Er hat sich bis ins Mannesalter etwas durchaus Infantiles bewahrt – nicht etwa Jungenhaftes, sondern eine stehengebliebene Pennälerphantasie: alles, was er schreibt, trägt heute noch die Pickel einer mühevollen Zeit. Der also hat einen ›offenen Brief‹ an Hermann Keyserling gerichtet: »in deutscher und christlicher Sache«: ein Buchhalter, der auf einen Maskenball als Martin Luther geht. ›Die Elemente der deutschen Position‹ heißt das Ding.

Was die beiden voneinander wollen, weiß ich nicht. Keyserling hat den andern für einen großen Magier erklärt, und Blüher buckelt vor jenem herum, ein ziemlich scheußlicher Anblick. Seite 41: »Deutschland weist von allen Ländern am markantesten und unfehlbarsten zwei solcher verpflichtenden Gestalten auf, die durch ihr Alter schon in die mythische Sphäre gerückt sind, und denen deshalb, ja nur deshalb, eine wahre historische Macht innewohnt.« Wer? – »Hindenburg und Stefan George.« Dies ist das schönste ›und‹, das je in deutscher Sprache geschrieben worden ist.

In Blüher tobt durchaus und durchum der Kampf der Tertia. »Von George noch zu reden erübrigt sich; aber es ist Ihnen vielleicht neu, zu erfahren, daß Hindenburg der angesehenste Mann der Welt ist.« Fragen Sie den Vorsteher des Weltpostamts in Steglitz, und er wird Ihnen das bestätigen.

Rührend die den Faschisten abgeborgten Versuche, die Exzesse eines wildgewordenen Volkstums als ›modern‹ und die Demokratie (lies: Sozialismus, lies: Bolschewismus, lies: Judentum, lies: und überhaupt) als abgestandene Reaktion aufzuzeigen. Wenn Mussolini das in Italien donnert, so mag daran ein Gran Wahrheit sein; wenn diese wolkigen, schwammigen und des saubern und hellen Denkens unfähigen Gehirne, etwa um Stadler, das besorgen, so wirkt es rührend. Stellenweise ist das Heftchen sanft übergeschnappt – ist Blüher nie aus Deutschland herausgekommen? Deutschland, »das Land, gegen das alle Welt mit Recht Krieg führt (weltlich gesprochen), weil alle Welt das Zustandekommen der germanisch-christlichen Sakralunion verhindern will«. Kann diesen Leuten denn niemand eine Schiffskarte nach London kaufen, damit sie sich einmal mit gebildeten Engländern unterhalten?

Dies ist unter anderm die Sorte Literatur, die Keyserling hervorruft, und wir wollen gewiß nicht stören; dergleichen geht ja wohl nur die Beteiligten an. Und Jungnickeln. Der schreibt über Blühers Buch: »Wir hatten im Felde einen Major, einen eisernen, spartanischen Kerl, der keine Etappe kannte, kein Hintensitzen, wenn alles vorging.[153] Seine Losung war: Sieg oder Tod! Da las ich das obige Buch, und sofort war er wieder da, der große graue Schatten dieses Soldaten. Ein verwegener Kämpfer.« So, und nun geh wieder in dein Körbchen.


Das alles aber läßt den darmstädter Armleuchter nicht ruhn. Er reist.

Man hat uns erzählt, wie sich Keyserling in Amerika betragen hat. Wie ers anderswo treibt, läßt er in seinen ›Wegen zur Vollendung‹ verkünden, »Von Budapest ging es nach Rumänien, wo Graf Keyserling eine Woche lang geradezu großartig aufgenommen wurde. Die Seele der Interessierten war die Fürstin Alexandrine Cantacuzène . . . Alles, was in Rumänien führt, wetteiferte darin, der Person und dem Werk des Grafen Keyserling sein Interesse zu bekunden, von der Königin über die Spitzen der Regierung . . . (Imponierklammer: ›Wat sachste nu –?‹) . . . Besonderer Dank gebührt hier dem deutschen Botschafter Nadolny . . . « Das ist ein weites Feld.

Der Typus des mittlern deutschen Diplomaten ist nach dem Kriege zweifellos um eine Winzigkeit besser geworden; es geht auf den Botschaften und Gesandtschaften allerdings noch etwas unsicher zu . . . Macht diese Sorte meist reaktionärer Beamter das, was in jenen Kreisen ›Kulturpropaganda‹ genannt wird, so hat man immer den Eindruck, daß ihnen der Kragen reichlich eng wird; sie fühlen sich nicht sehr wohl dabei. Erstens interessieren sie sich einen Schmarren für die deutsche Kultur, wenn es sich nicht um die zu nichts verpflichtende Musik handelt; zweitens kann man nie wissen, und drittens besteht durchweg und überall noch die Anschauung, daß der Eingeladene allemal der Geehrte sei. Darin werden diese Beamten des Auswärtigen Amts durch die Kriecherei der meisten Künstler und Journalisten stark unterstützt, aber jeder wird schließlich so behandelt, wie er es verdient. Die ›Prominenz‹ ist von ihrer eignen Wichtigkeit begeistert, und was darunter ist, katzbuckelt. Denn die tiefe Unsicherheit dieses Bürgertums ist heute noch so groß, daß es hochgeehrt die Luft dieser Kreise einatmet, deren Qualifikationsvokabeln von: ›höchst übel‹ bis: ›ein sehr ordentlicher Mann‹ reichen, und niemand ist so hoffärtig und hoffertig wie der diplomatisch ›akkreditierte‹ Journalist, vor dessen Verlag der Diplomat lange nicht so viel Angst hat wie der vor ihm.

Die Botschafter und Gesandten selbst können ihre wahre Natur nicht lange verleugnen. Es mag sein, daß an kleineren Plätzen wahrhaft demokratische und innerlich freie Männer sitzen; das Gros besteht aus den Korpsbrüdern des Herrn Domela, und weil jeder Deutsche zunächst gegen jeden Deutschen ist, so ist die Atmosphäre auf einer Durchschnittsbotschaft nicht gerade als sehr amüsant zu bezeichnen. Immer wieder erschreckend ist die tiefe Beziehungslosigkeit dieser reichlich überschätzten Funktionäre zu allem, was Deutschland[154] wertvoll macht; wirklich wohl fühlen sie sich nur unter ihresgleichen, unter Beamten, Militärs, Adel, Gutsbesitzern und sehr reichen Industriellen. (Am besten wäre demnach ein ehemaliger Generalstabsoffizier vom Adel, mit Petroleumaktien.) Es ist nicht sehr erheiternd, zu sehen, wer noch immer Deutschland im Ausland repräsentiert.

Was diese Kulturzentren mit Keyserling anfangen könnten, ist leicht zu verstehen. Ein Philosoph, gemildert durch den Grafentitel, ein Graf mit einem leichten philosophischen Fleck auf dem Wappenschild – damit ließe sich auskommen. Aber selbst denen hat er Kummer und Elend gemacht; selbst denen ist er auf die reichlich dicken Nerven gefallen; selbst in diesem Milieu hat er keinen Erfolg gehabt: eine Schießbudenfigur, drei Schuß zu fünfundzwanzig.

Was er sonst im Auslande anrichtet, ist, ganz im Gegensatz zu seinen rosigen und donnernden Schilderungen, als Unfug anzusprechen. Ein schwedischer Diplomat sprach mir jüngst mit Ironie und Entrüstung von der Schilderung, die jener von den schwedischen Frauen entworfen hatte, und er tat es ohne Scheu, weil es ja weit über den lächerlichen Paß hinaus eine Internationale der vernünftigen Menschen gibt. »Niemand nimmt ihn bei uns ernst«, erzählte der Schwede, »man hat über ihn gelacht.« Die Leute müssen auf schwedisch gelacht haben, denn Keyserling, der kein Schwedisch versteht, hat es für Beifall gehalten. Skal –!

Der Weg zur Vollendung? Bitte zweiten Gang, die erste Tür rechts.


Die pariser Chansonniers haben eine Reihe bekannter Größen, über die sie sich ständig und traditionell lustig machen: Citroën und Cécile Sorel und Mistinguett und Doumergue – ›têtes de Turque‹ nennt man das. Dazu scheint mir jener gut genug. Im Ernst soll von ihm nicht mehr die Rede sein.

Im Ernst repräsentiert Hermann Keyserling nichts als eine gewisse schlechte und gleichgültige, wertlose und ephemere Schicht Deutschlands. Er ist ein gefährlicher Exportartikel, ein Kerl, der auf den verbogenen Stelzen seines Stils durch die Welt stakt, ganze Porzellanläden umwirft und bestimmt überall da aneckt, wo es den Inhabern der fremden Wohnung weh tut. Immerhin gibt es in Deutschland rechts und links wertvolle, vernünftige Menschen . . . Unsere Aushängeschilder aber heißen: Graf Luckner, Reichskanzler a. D. (außer das) Michaelis; Altreichskanzler Fürst Luther; Reichswehroffiziere aller Schattierungen, von so grün bis zum tiefsten Schwarz, Schnellschwimmer, Schnelläufer, Schnellboxer und ein Schnellredner: der darmstädter Armleuchter.

Tat twam asi, Deutschland –?


  • [155] · Peter Panter
    Die Weltbühne, 19.06.1928, Nr. 25, S. 936, wieder in: Mona Lisa.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 151-156.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon