Grimms Märchen

[215] Deutschland, die verfolgende Unschuld.

Karl Kraus


Zu den Bibeln des Deutschtums, wo es am knastrigsten ist, gehört auch ein dicker Wälzer, ›Volk ohne Raum‹ von Hans Grimm. Der Mann hat in Deutsch-Südwest gelebt und hat vor dem Kriege einige beachtliche Novellen veröffentlicht. (›Der Gang durch den Sand‹; alle seine Arbeiten sind bei Albert Langen in München erschienen.) Nach dem Kriege aber fuhr es in ihn; wie alle Deutschen ein schlechter Verlierer, kochte er die erlittene Niederlage metaphysisch auf und tat an der vorhandenen Überbevölkerung des deutschen Landes und vermittels eines mäßigen Romans dar, daß Deutschland wiederum Kolonien brauche. Stil und Poesie erinnern etwa an den Pastor Frenssen – die gleiche dilettantische Innigkeit, die da glaubt, wenn der Schreiber ergriffen sei, müsse es auch der Leser sein, die gleiche protestantische Provinziallyrik mit Hummelgesumm und Waldesrauschen, die zwar Naturverbundenheit aufweist, von der Seele der Natur aber nur so viel weiß, wie aus dem bäurischen Grundbuch hervorgeht. Es ist so recht ein prächtiges Ferienbuch für unsre Landgerichtsdirektoren.

Anzumerken, daß Hans Grimm ein im tiefsten Kern anständiger Mann ist; die üble Ausnutzung, die der Roman durch deutsch-nationale Annexions-Politiker erfahren hat, mag ihm selber nicht sehr behaglich sein, wir werden das gleich sehen.

›Die dreizehn Briefe aus Deutsch-Südwest-Afrika‹ sind die Frucht eines Nachkriegs-Besuchs, den Grimm der ehemaligen deutschen Kolonie, die er immer noch, wie alle seine Freunde, mit ihrem falschen Namen benennt, gemacht hat. Was hat er uns zu vermelden?

Deutschland hat seine ehemaligen Kolonien durch den Vertrag von Versailles eingebüßt, darunter auch Deutsch-Südwest. Dieses Gebiet fiel an keine einzelne Nation unter den Siegern, sondern es wurde Mandatsgebiet des Völkerbundes. Der Völkerbund vertraute die Verwaltung des Landes der benachbarten Südafrikanischen Union an, die 1909 aus dem Burenkrieg hervorgegangen ist, die Union stellte den Landpfleger, der seinerseits dem Völkerbund für seine Verwaltung Rechenschaft ablegen muß. Der Mandatsverwalter hat auf Grund des Friedensvertrages das Recht, die deutschen ehemaligen Kolonisten des[215] Landes zu verweisen; eine Entschädigung dieser Leute sollte durch Deutschland erfolgen. Im Jahre 1924 wurde durch das londoner Abkommen bestimmt, daß alle Deutschen, die vor einem bestimmten Stichtag im Lande waren, die Untertanenschaft der Union erhalten sollten, wenn sie nicht ausdrücklich darauf verzichteten. Nach dem Stichtag erhalten Zugewanderte die vollen politischen Rechte des Landes nur, wenn sie die Verleihung der britischen Untertanenschaft bei Verlust der deutschen beantragten, nach fünf Jahren können sie dann volle Bürger werden.

Grimm klagt nun, hier werde ein großer Betrug verübt. Das ehemalige Deutsch-Südwest sei in Wahrheit gar kein rechtes Mandatsland mehr, sondern durch die gesetzlichen Schiebungen der Union sei es im besten Zuge, von der Union verschluckt und damit englisch zu werden oder doch unter englischen Einfluß zu kommen. Im übrigen trete man die Rechte der dort ansässigen Deutschen mit Füßen und quäle sie durch Nichtanerkennung der deutschen Sprache und nicht sehr freundliche Behandlung. Die Deutschen, fügt Grimm hinzu, beugten sich diesem Regime, indem sie unterkröchen, von Hause aus hätten sie keine Unterstützung. Dies ist die Lage.

Unsre erste Frage: was geht das Grimm eigentlich an? Ist das Land noch deutsch?

Darauf antwortet er: Nein, deutsch sei es nicht, aber die Deutschen hätten es dem Handel erschlossen, was richtig ist, und es gebe, was noch richtiger ist, einen Eigentumsbegriff, der durch Arbeit und durch Verbesserung des Objekts entsteht. Liebe und Interesse der Deutschen, die so viel Schweiß und Blut für das Land aufgebracht hätten, seien also verständlich.

Weil hier aber kein Bierfilz-Kolonialpolitiker spricht, sondern ein sauberer, aufrechter Mann, verlohnt es, diese typisch deutsche Anschauung über das, was Kolonien eigentlich sind und sein sollen, zu betrachten.

Zunächst ist merkwürdig, zu sehn, wie schlecht diese Teutschen schreiben. Ich will gar nicht von dem wahrhaft Morgensternschen Satz reden: »Der Vogel, der im Volksmunde Pfefferfresser und in Wirklichkeit nach seinem Rufe tok, tok, tok Tokan heißt« – dieses ›in Wirklichkeit‹ hätte der alte Mauthner erleben sollen. Es sind auch nicht jene Schachtelsätze, die man nur mit allen zehn Fingern lesen kann, auf jeweils einen Nebensatz einen Finger haltend, um den Faden nicht zu verlieren; nicht allein solche Flüchtigkeiten wie: »aber die Begegnungen sind nicht fertig«, was besagen will, daß der Autor sie noch nicht alle aufgezählt hat; ein Ort wird der »am meisten geschichtliche« genannt – das mag vielleicht in einer Tages-Broschüre hingehen, obgleich ein guter Schriftsteller immer gut schreiben sollte. Nein, das allein ist es nicht. Es ist jener seltsame und ekle Stil, den man etwa[216] mit ›Grammatik in Latschen‹ umschreiben könnte, ein Stil, der den Leser gewissermaßen in die Seiten pufft: du weißt schon, wie ichs mene, ich brauche mich nicht so exakt auszudrücken. Traulich duftet es nach süßem Tabak; wann sich Pappa zum letzten Mal die Füße gewaschen hat, steht noch sehr dahin, die Frauen haben viel Gemüt und wenig Bidet, und im Garten blühen Himbeern, Kirschbäume und die deutsche Seele. So ein Stil ist das.

Helmspitzen blitzen in dieser Wüste auf – um im Bilde zu bleiben, denn Bilder, Vergleiche und Terminologie dieser Schriftsteller haben weniger die deutschen Klassiker, als die Klassiker der Armee-Lügen, die Heeresberichte, zum Vorbild. Da stehen ununterbrochen Deutsche an vorderster »Frontstelle«, da gibt es auch noch »Miesmacher« – kurz sie halten, wie die leeren Pferde-Droschken, die keiner mehr nehmen will, allesamt an der Ecke 1914.

Was an der Sache auffällt, ist eine unerträgliche Vermanschung von Lyrik und Geschäft, von Handelsinteressen und gehobenem Patriotismus, von höher klopfenden Herzen und Nationalwirtschaft. Das ist grausig. Im Grunde sind ja alle Menschen immer Marxisten und niemals etwas andres gewesen – es fragt sich nur, ob sie den Mut haben, es sich einzugestehen oder ob sie ihre Konten mit Gefühlen drapieren, die je nach der herrschenden Mode ein Kreuz oder die noch heiligeren Flaggen ihrer Länder tragen. Grimm drapiert nicht – er macht seine Rechnungen auf schwarz-weiß-rotem Papier auf. Denn wozu brauchen wir Kolonien?

Des Landwertes wegen? »Das Land ist immer noch ein armes Land; wären im Jahre 1908 in der Küstenwüste bei Lüderitzbucht nicht die Diamanten entdeckt worden, so vermöchte es bis auf diesen Tag die Kosten einer bürgerlichen Verwaltung und bürgerlichen Lebens aus eignen Mitteln nicht zu bestreiten . . . Das Land ist arm wegen der Unsicherheit und Kärglichkeit der Regenfälle . . . « Wir brauchen Kolonien.

Für die Ausfuhr? »Sie haben wahrscheinlich recht mit Ihrer Behauptung: Bekämen wir das alte Kolonialreich, wie es war, wieder, es wäre nur eine Nothilfe mit vielen andern Verwicklungen, und vor dem Kriege habe die Ausfuhr nach dem alten Kolonialreich nur etwa 1,5 Prozent betragen.« Wozu brauchen wir Kolonien?

Für die deutsche Überproduktion an Menschen, da doch Deutschland nicht ausreicht? Deutschland hat seine Bebauungsfläche noch niemals richtig ausgenutzt, weil erstens die deutsche Landwirtschaft von den Schutzzöllen so geschützt wird, daß an eine moderne Intensivierung der Bodenbewirtschaftung gar nicht gedacht wird, und zweitens wirft eben dieses arme, übervölkerte Land sein Geld zu den Fenstern des Reichswehrministeriums hinaus, anstatt sein Ödland den siedlungshungrigen Proletariern aus den Großstädten zu erschließen. Vor allem[217] aber ist der deutsche Menschenüberschuß, nie, niemals in die deutschen Kolonien abgewandert, und wer das etwa behaupten wollte, der lügt.

Hans Grimm lügt nicht – hier nicht und nicht anderswo. Er erzählt nur holde Märchen. Ausnutzen läßt sich dieses arme Land Südwest nicht; exportieren kann es kaum etwas; zu importieren ist wenig; den Bevölkerungsüberschuß Deutschlands nimmt es tatsächlich nicht auf – wozu brauchen wir Kolonien?

Und hier geschieht nun etwas typisch Deutsches.

Der Deutsche beginnt, wie alle Welt, mit wirtschaftlichen Erwägungen, eine durchaus gesunde und rationale Methode. Greift die nicht durch – aber nur dann –: dann wird er moralisch. Vielleicht tun das alle Menschen, aber der Deutsche hat es in dieser Fähigkeit zu einer Meisterschaft gebracht, die ihresgleichen sucht. Wenn man auf den deutschen ›Geist‹ dieser Sorte trifft, so kann man in neunundneunzig Fällen von hundert darauf schwören, daß dem Herrn Geist-Inhaber etwas fortgeschwommen ist, wofür er sich zu trösten sucht. Der Geist ist in Deutschland immer die letzte Rettung nach den Niederlagen – sie gehen auf den Geist, wie andre auf den Abort. Als Sieger brauchen sie ihn nicht.

Diese Art Deutscher hat nie unrecht, er geht nie in sich, kommt nie auf den Gedanken, daß auch er vielleicht jemandem Unrecht getan haben könne – er siegt, und wenn er nicht siegt, dann borgt er sich einen Sieg, und den findet er immer in dem, was er ›Staatsräson‹ oder ›Gesinnung‹ oder ›Innenleben‹ oder ›vaterländische Religiosität‹ oder sonst dergleichen nennt. Diese Linie läßt sich von Luther an verfolgen, der das Unglück Deutschlands gewesen ist, und wenn Sie heute Rathenau, Scheler oder dergleichen lesen, so finden Sie dasselbe, schön formuliert. Am besten aber können das die geschlagenen Nationalisten. So auch Grimm. Wozu brauchen wir Kolonien –?

Für die Wirtschaft? »Mir scheint, solche Auffassung stammt aus früherer westlerischer und vielleicht auch hamburger Betrachtungsweise.« Ah, das sind die ›Krämer jenseits des Kanals‹, jene Händler, die der Held Sombart in schönen feldgrauen Tagen den deutschen Edelkaufleuten gegenübergestellt hat; nun aber, nach dem schiefgegangenen Gasangriff, wird ein Geistangriff angesetzt. Zum Sturm, marsch-marsch . . . !

»Die höchste Bedeutung eignen Koloniallandes für ein übervölkertes, eingeengtes Land liegt auf der ›moralischen‹ Seite.« Und die sieht so aus:

»Es wandern zur Zeit etwa elfhundert deutsche Menschen im Jahre in das Mandatsland Deutsch-Südwest ein, mit meistens verworrenen Erwartungen. Wenn hundert Jungens an einer Frontstelle ihren Drang erfüllen und selbständige, unabhängige deutsche Männer werden können, statt als Putschisten und Krawaller und Ewigunzufriedene[218] über Deutschland verteilt und wartend zu sitzen, und weiter, wenn zehn Jungens an einer deutschen Frontstelle und entfernt von den viel mehr eingebildeten als wirklichen inneren Streitgegenständen der Heimat durch Sonne und Luft und Freiheit und Tat und ungehinderte Männlichkeit zu deutschen Führern werden, ist das wenig?«

Damit also zehn oder hundert deutsche Psychopathen ihren sadistischen Trieb nicht mehr in Lichtenberg an den Arbeitern, sondern in der Wüste an den Kaffern austoben können: darum brauchen wir Kolonien. Damit die degeneriertesten Zellen dieses Volkskörpers, deren ursprünglich einmal gesunde und gute Beschaffenheit durch den Krebs der national-tierischen Eigenschaften überwuchert ist, gedeihen und sich gar noch auf eine Führerschaft vorbereiten können, an der das Land bereits einmal Millionen von Menschen und Mark verloren hat: darum brauchen wir Kolonien. Weil junge Engländer, unter ganz andern Verhältnissen und in einem andern Jahrhundert, die Herrenhaftigkeit und Männlichkeit ihrer Rasse in wehrloser Welt entwickeln konnten, deshalb tun wir das ›auch‹ (du deutschestes aller Wörter!) – und weil die Romantik freier und junger Menschenangesichts der Überbürokratisierung und grauen Nivellierungsarbeit dieses Parlamentarismus rechtens einen Weg ins Freie sucht, aber keinen findet, weil sie falsche Weltkarten haben –: darum brauchen wir Kolonien. Wir brauchen keine Kolonien.

Wir brauchen keine Kolonien, weil dieses Mandatsland durchaus kein »erster praktischer Versuch in die afrikanische und menschliche Zukunft hinein« ist. Diese Vereinigung von Kapitalisten und gefügigen Gewerkschaftsbürokraten, die sich Völkerbund nennt, ist ein Versuch, ein Gebilde, das sich vielleicht entwickeln kann, aber seine Aussichten nehmen mit jedem Tage ab. Unser Genf liegt in Moskau.

Ganz etwas andres, wenn Grimm sagt:

»Auf andre als auf übernationale Weise läßt sich die koloniale Frage des an Menschen überfüllten Mittel- und Westeuropa nicht lösen.« Aber man kann nicht zum Zwecke der Ausbeutung in Afrika ›übernational‹ spielen und zu Hause den Nationalklimbim mit höchstem Ernst und den blutigsten Mitteln fortführen. Entweder – oder. Entweder ihr seht ein, daß der Gedanke der absoluten Souveränität ein Anachronismus ist, daß die zwischen den Staaten herrschende Anarchie nicht nur unsittlich, sondern im höchsten Grade unpraktisch ist, oder ihr seht es nicht ein. »In Afrika, da ging es nicht – in Tempelhof, da gehts«, hat vom Parademarsch einmal Julius Freund gesungen.

Was da in Süd-Afrika geschieht, mag eine Schiebung sein – uns geht sie nichts an, und der deutsche Arbeiter, der deutsche Landarbeiter hat andre Sorgen, die ihm Süd-West nicht abnehmen kann. Haben wir denn ein Recht an diesem Lande?

Unter meinen Kindheitseindrücken an das deutsche Militär rangieren[219] zwei an erster Stelle. Der früheste, also stärkste, ist eine nach Urin stinkende Latrine einer stettiner Kaserne; und jene, denen die Terminologie der Psychoanalyse das bißchen Verstand genommen hat, mögen deutend ergründen, wie schon der Knabe eine ganze Institution mit dem herben Geruch der Männerausscheidungen identifizierte, und tatsächlich habe ich das auch heute noch in der Nase, wenn ich einen General sehe. Der zweite Eindruck war ernster.

Im Jahre 1904 zogen sie aus der Alexander-Kaserne: hochgewachsene Männer in der damals ungewohnten grauen Kolonialuniform, Mann neben Mann, Trupp hinter Trupp, die Musik vorn und die weinenden Frauen hinterher. Diese Freiwilligen ahnten mehr, als daß sie wußten, wohin sie gingen. Immerhin: man hatte sie wenigstens nicht gezwungen. Sie verdursteten, verreckten und verbluteten dann auf dem heißen Sande, und Frenssen hat nachher einen schönen Roman daraus gemacht und die Schiffahrtslinien ein schönes Geschäft. Da marschierten sie hin . . . »Muß i denn – muß i denn« spielte die Musik; sie mußten ja wohl.

An vielen Stellen der Grimmschen Schrift ist davon die Rede, daß die Gräber dieser Gefallenen eine laute Sprache redeten, und das tun sie auch. Aber Grimm versteht das Deutsch der Toten nicht. Sie rufen: wofür? Sie rufen: wenn wir das gewußt hätten! Sie rufen: Herr, vergib uns, denn wir wußten nicht, was wir taten! Das rufen diese Gräber. Blut schafft kein Recht.

»Nach dem Kriege mit den Hereros versuchte die deutsche Schutzgebietsregierung, die Hererofrage als einen Teil der Eingeborenenfrage dadurch vorläufig zu lösen, daß sie den rückkehrenden Aufständischen das Halten von Großvieh verbot.« Diese hundsföttische Gemeinheit, über die der alte Herero Dernburg einiges auszusagen vermöchte, trieb die Leute in die Wüste, ließ sie zu Tausenden draufgehen und setzte die imperialistische Eroberungspolitik konsequent fort. Und wenn die Nationalhereros einen Schriftsteller Hans Grimm hätten, so würde der einen herrlichen Roman, in zwei Bänden, schreiben, wie unterdrückt, wie ausgebeutet, wie mißhandelt sein Volk sei . . .

Ob die Deutschen bei den Eingeborenen beliebter seien als die Engländer oder die Buren, kann ich nicht beurteilen. Grimm druckt den Bericht eines antideutschen Buren ab, in dem etwa zu lesen steht, die Kaffern hätten lieber vor den Deutschen stramm gestanden, als bei den Buren gearbeitet, ein nicht unalltäglicher Vorgang, den man in Deutschland auf vielen Kasernenhöfen beobachten kann.

Daß die Buren, für die sich einmal der sentimentale deutsche Spießer, Ludwig Thoma obenan, schwer begeistert hat, wie der Deutsche ja immer lieber die Freiheit der Griechen, der Buren und der Chinesen besingt, als sich die eigne zu erringen: daß die Buren nicht die besten Brüder sind, glauben wir gern. Aber was, in aller Welt, geht uns das an? Was haben wir dort zu suchen?

[220] Grimm ist kein objektiver Mann; er hat . . . er hat: »Rückgefühl«. So bezeichnet dieser deutsche Schriftsteller den Begriff ›ressentiment‹, und es ist ungemein bezeichnend, wie diese Puristen deutsch schreiben wollen, ohne deutsch denken zu können. Denn ›Rückgefühl‹ ist überhaupt nichts; daß Fremdwort ›ressentiment‹, mit dem wir eine durch alten Groll getrübte Empfindung bezeichnen, ist sehr schwer zu übertragen, mit einer plumpen Übersetzung am allerwenigsten. Ja, also Grimm hat ›Rückgefühl‹ – aber nennen wir doch die Sache beim Namen. Er kann die Niederlage nicht verwinden.

Das gedemütigte Selbstbewußtsein muß irgendwoheraus – bei ihm entfliehts nach Süd-Afrika. Es ist unbeschreiblich, wie die geschlagenen Deutschen die Geschichte in Terminologie und Anschauung verfälschen. Hausse in Anführungsstrichen: der ›sogenannte‹ Friedensvertrag; bei Grimm heißt es einmal: »ein leer gestohlener Ort«, wenn aber die deutschen Truppen Belgien besetzten, dann nahmen sie kriegerische Operationen vor – so verschieden ist es im menschlichen Leben. Immer wieder wird angemerkt, daß das Reich ›gezwungen‹ auf seine Kolonien verzichtet hat; ja, hat denn schon irgend jemand einen Friedensvertrag unter anarchisch lebenden kapitalistischen Staaten gesehen, in denen der Besiegte etwas ungezwungen aufgegeben hat? Natürlich ist der Vertrag von Versailles ein Friedensvertrag wie alle andern in der Weltgeschichte auch – von Recht und solch schönen Vokabeln kann gar keine Rede sein. Die Gewalt hat gesprochen. Paßt euch nicht? Dann müßt ihr keine Kriege anfangen. Wer riskiert, kann auch verlieren. Ihr aber seid schlechte Verlierer.

Sie haben die Neutralität Belgiens gebrochen; sie haben den Krieg vorbereitet wie alle andern Nationen und haben ihn zuletzt leichtsinnig heraufbeschworen, ihn gefördert, die Krisis nicht abgedämmt – jetzt beklagen sie sich. »Das wahnwitzigste, noch fortwährend zunehmende Unrecht vor Gott wie um der ganzen zukünftigen Menschheit willen«, das man uns antut . . . Wenn ihr kein Recht über den Völkern anerkennt, wenn ihr glaubt, daß es gegen die ›Ehre‹, diesen Fahnenpopanz, geht, einen übernationalen Schiedsspruch anzunehmen, und ihr habt das immer geglaubt, dann dürft ihr euch nicht wundern, wenn im Fall der Niederlage die Gegenseite über euch herfällt, wie ihr über sie habt herfallen wollen. Anarchie ist Anarchie – und einer liegt immer unten.

Dabei ist Grimm anständig genug, die ungeheuren Fehler, die Deutschland in Afrika gemacht hat, zu sehen und sie zu vermelden. Daß die englische Bürokratie höfliche Formen aufweist und nicht so lümmlig mit den Leuten umgeht, wie das ein deutscher Regierungsassessor gewohnt war und wohl noch oft ist, gibt er zu. Er sagt: »Eitelkeit, gehemmter Ehrgeiz und der klassenbeschränkte Wunsch zum Voran haben bei uns, mehr als wirkliche Uneinigkeit getan hat, die[221] vielen Vereine und Parteien mit ihren Posten und kleinen Wichtigkeiten hervorgerufen und haben mehr als wirkliche Stammesverschiedenheit die heimische Kleinstaaterei aufkommen lassen; aber durch das deutsche pedantische Gewissen gewannen die deutschen Trennungen, heißen sie Vereine, heißen sie Parteien, heißen sie Kleinstaaten, erst Dauer.« (Bei aller Verehrung: hören Sie das, Professor Foerster?)

Und daß die Deutschen den Druck und den Verlockungen da unten nicht standhalten . . . . die Deutschen sind nun einmal unter den Nationen das, was die Juden unter den Deutschen; das ist schmerzlich zu hören, aber wahr, wenn auch lustigerweise beide Vergleichsobjekte dagegen, wild fauchend, also getroffen protestieren.

Nein, wir brauchen mitnichten Kolonien. Grimm versucht, ein Bedürfnis erst hervorzurufen, das jene ausfüllen sollen. »Der Nachmarsch nach Südwest aus Deutschland ist bitter nötig« – also nicht vorhanden. Wir brauchen keine Kolonien; eine erfreuliche und eindeutig klare Erklärung des deutschen Reichskanzlers, Hermann Müller, hat das rechtens betont. Kolonien sind ein Anachronismus.

Grimm aber spricht von dem »schwindelhaften Erwachen der Farbigen, jenem heißgeliebten Thema aller Berichterstatter«, und davon, daß »Afrika mit Asien und seinen unterdrückten und erwachenden Völkern« nichts gemein hat. »Die mögliche Erhebung von Ganzafrika gegen die Unterdrückung der imperialistischen Mächte und besonders Englands gehört zum dicksten Schwindel, der gläubigen Deutschen je vorgedruckt wurde.« Nun, der dickste Schwindel . . . die Banknoten, die die Herren Havenstein und Cuno der Nation vorgedruckt haben, waren auch ganz schön . . . Aber immerhin genügt ja auch die partielle Erhebung eines neuen, schwarzen Proletariats, wie Grimm das richtig voraussieht; die Zeiten, wo man mit den schwarzen Arbeitern machen konnte, was man wollte, sind vorbei.

Vorbei die Zeit der Kolonien – es ist ein neuer Gedanke in die Welt gezogen, einer, der dumpfem Fühlen wachen Ausdruck verliehen hat: der Gedanke des neuen Rußlands. Dem und seinen Gegnern gehört die Zukunft. Der gerissene Neudeutsche wird sich wahrscheinlich sehr bald dahinterklemmen und, in Firma Saure Trauben & Co., bei den beginnenden Kolonialkämpfen weniger die neue Idee, als die Schwierigkeiten der Konkurrenten sehen; deutsche Außenpolitik besteht ja traditionell zum größten Teil aus Schadenfreude.

Altdeutsche Ideologie aber ist entweder eine bewußte Lüge oder, wie bei Grimm, sanfte Verträumtheit, die dem sonst so erfahrenen und real bewanderten Mann merkwürdig zu Gesicht steht. Vorbei, vorbei. Denn so beginnen die schönsten aller Grimmschen Märchen:

»Es war einmal.«


  • [222] · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 04.09.1928, Nr. 36, S. 353.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 215-223.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion

Gedanken über die Religion

Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.

246 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon