Jahrgang 1905

[192] Neulich ist hier vom ›journalistischen Nachwuchs‹ und seiner mangelnden Ausbildung gesprochen worden, und viele junge Leute haben Briefe geschrieben und Antworten erhalten. Aus diesen Briefen aber und aus der schwankenden Haltung der Redaktionen, die den Jungen gegenüber zwischen überheblicher Ablehnung und ängstlicher Schmeichelei hin und herpendeln, spricht eine Unsicherheit des Gefühls, die zu belichten sich lohnt.

Der Jahrgang 1905, um den es sich hier handelt, hats schwer. Er hats schwer, einmal, weil jede Jugend, die nach vorn drängt, den Widerstand der Trägheit zu spüren bekommt, wovon es sie zu befreien gilt, und er hats schwer, weil er selbst ohne eignes Verschulden nicht so sehr schön geraten ist. Diese Jugend, die sehr unter sich leidet, hat wenig heitere Tage gesehen, und sie hat ihre schwärzesten, düstersten, unfrohesten Zeiten gehabt, als sie die Sonne grade am nötigsten gebraucht hat: in der Pubertät. Die Zahlen, die hier genannt werden, sind approximativ: von ihrem neunten bis zum etwa achtzehnten Lebensjahr hat dieser Jahrgang von geistigen und wirklichen Kohlrüben[192] gelebt, ist bedrängt worden von grauenhaften Massenerlebnissen, ist Zeuge eines Nationalwahns und einer Volksnot gewesen, denen niemand hat standhalten können. Diese Erlebnisse radiert keiner aus. Die mangelnde Ausbildung nicht und nicht die schlechte Ernährung in den entscheidenden Jahren – dergleichen macht sich bemerkbar. Diese Generation hat einen Knacks und repräsentiert nicht in vollem Maße das junge Deutschland. Das fühlen die Klügern unter den jungen Leuten sehr genau, sie klagen, und wenn sie tapfer sind, wollen sie überwinden – deutlich spürbar ist ihnen allen ein Bruch.

Mir scheinen die Klagen berechtigt, die darauf hinweisen, daß verständnislose und rücksichtslose Vertreter der Ältern so gar nicht auf diese Not eingehen, sich vielleicht herablassen, aber nicht fördern wollen. Hierin hat jeder anständige Mensch ganz und gar auf Seiten der Jungen zu stehen. Nicht aber in einer andern Seite der Sache.

So überaltert unsere Politik und Verwaltung ist, so falsch verjüngt ist stellenweise die Kunst. Ich will gar nicht einmal von den alten Kritikern sprechen, die sich plötzlich kurze Hosen anziehen und in ihnen herumtanzen: ein grauslicher Anblick. (»Hallodri! Bin ich noch jung!«), so wie jene »ältern Kollegen«, von denen es bei Wassermann im ›Fall Maurizius‹ heißt: »Ältere Kollegen, die mit der Zeit gehen wollten, während sie in heimlicher Wut hinter ihr herkeuchten.« Mit Würde zu altern scheint nicht leicht zu sein.

Aber es gibt eine lärmende und laute Jugend, die Unterdrückung spielt, wenn die Leistung nicht langt, und die soll man nicht unterstützen, sondern auslachen.

Willy Haas hat in der ›Literarischen Welt‹ eine Sparte für die jüngsten Schriftsteller eingerichtet; ich glaube nicht, daß er viel Freude damit haben wird. Es gibt nämlich nicht eine einzige Jugend – es gibt hundert. Wollt ihr einen ›Reichsbund Deutscher Nachwuchs‹ gründen?

Es gibt hundert Jugenden – und nur auf die Tatsache pochen, daß einer jung ist, scheint mir genau so unzulänglich, wie brennende Jugend mit wehendem Vollbart widerlegen zu wollen. Diese Fiktion da tut grade so, als seien die andern eine einzige zusammengeschweißte Masse: hie Alte, dort Junge. Aber wir, die Ältern, fallen auseinander – so weit, daß ich manchmal nicht das geringste Gemeinsame mehr mit den eignen Altersgenossen sehen kann. Was hat Heinrich Mann mit Rudolf Stratz gemeinsam? Es sind Altersgenossen. Was Theodor Däubler mit Rudolf Presber? Sie sind Altersgenossen. Was Bruno Frank mit Max Jungnickel? Was alle beide mit Hans Müller –?

Die Jungen sollen in der ›Literarischen Welt‹ sagen, »was wir an euch auszusetzen haben«. Wer ›wir‹ ist, steht noch sehr dahin; daß es ›euch‹ nicht gibt, weiß ich aus Erfahrung. Und mir will diese verblasene Terminologie der Jungen nicht gefallen, die ›Jugend als Lebensform‹ ausschreit, als ob es das gäbe, und als ob nicht die Qualität[193] des Kerls entscheidet, der da ein Jüngling, ein Mann und ein Greis ist! Tauchte heute ein neuer Georg Heym auf, ich liefe hin und hörte zu und lernte auswendig, wie damals. Kommt einer, der unsre Götter mit Fußtritten von den Altären fegt –: wenn er die Kraft hat, so muß man ihm zuhören und vielleicht mittun. Alles ist erlaubt – nur eines nicht. Die leere Betonung der Tatsache, daß der Geburtsschein auf 1905 lautet, und nichts als das.

Es gibt sehr viele junge Leute, die genau wissen, daß die feuilletonistisch fertigen jungen Herren ihre Generation nicht gut vertreten, daß deren Aktiv-Legitimation sehr anzuzweifeln ist, und daß die ohnmächtigen Phrasen vom »Wissen um die letzten Dinge« oder wie das Zeug heißt, keine Not lindert, keinen Pubertätsschmerz heilt, uns nicht vorwärts bringt. Nicht daß einer jung ist, ist wichtig, es kommt darauf an, wer es ist.

Denn der junge Wassermann ist wichtiger gewesen als der alte Hindenburg; der alte Hamsun wichtiger als der junge Wolfgang Goetz (was eine contradictio in adjecto ist) – der alte Fontane war so groß wie der junge Hauptmann und der junge selige Edschmid so nichtig wie der alte Otto Ernst. Wenn keine Kraft da ist: das Alter machts nicht.

Soweit ein einzelner auf Grund seiner Erfahrung das sagen kann, scheint mir am wertvollsten der Jahrgang zu sein, der heute noch auf den Schulen sitzt, also jener, der nach dem Jahrgang 1905 kommen wird. Da sitzen die Unbefangenen, da sind Jungen, die schon wieder eine leichte Jugend gehabt haben, die uns Altere schon heute mit ihrer völligen Voraussetzungslosigkeit verblüffen, mit dem Gefühl für Einfachheit und für Klarheit . . . ich sollte mich sehr täuschen, wenn da nicht der neue Mann und die neuen Männer sitzen.

Weil es billige Mode geworden ist, der Jugend zu schmeicheln, statt die Wertvollem herauszuheben, macht man es eben diesen Wertvollen schwer. Man plakatiere nicht Jugend, man setze nicht »Jugendpreise« aus, bei denen Leute bis zu vierzig Jahren konkurrieren dürfen, und man spiele nicht vor dem Spiegel: »So alt bin ich doch noch gar nicht . . . !« Kollektivlob taugt nichts, und man kann nicht einen ganzen Jahrgang bejahen. Wer den Geburtsschein schwenkt, ist verdächtig, einem Examen ausweichen zu wollen: der Prüfung und der berechtigten Frage, ob er Murr in den Knochen hat. Hat er die, dann sei er willkommen: von sechzehn bis sechzig Jahren.


  • [194] · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 14.08.1928, Nr. 33, S. 242.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 192-195.
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