Träumerei auf einem Havelsee

[228] Ich bin Prokurist einer Wäschefabrik,

Sternberg, Guttmann &. Sohn.

Mein Segelboot heißt ›Heil und Sieg‹,

zwei Stunden lieg ich hier schon

und seh auf die Kiefern und in das Wasser hinein –

auf meinem Boot ganz allein.


Urlaub hatte ich im August,

ich war in Norderney,

mit Lilly . . . ihre linke Brust

sieht aus wie ein kleines Ei.

Wenn man sie da kneift, dann wird sie gemein –

auf meinem Boot ganz allein.


Graske ist ein gemeiner Hund,

ein falsches Aas – er tut bloß so . . .

er weiß, der Alte ist nicht ganz gesund;

wenn mans merkt, bleibt er länger im Büro.

Und dem Junior kriecht er jetzt auch hinten rein –

auf meinem Boot ganz allein.


Mutter wird alt. Wie alt . . . warte mal:

vierundsechzig, nein: achtundsechzig, genau.

Grete soll ganz still sein; sie pöbelt mit ihrem Personal

wie eine Schlächtersfrau.

Ich frage mich: muß eigentlich Verwandtschaft sein?

auf meinem Boot ganz allein.


Ich habe es schließlich zu was gebracht,

ich geh auf den Presseball;

auf Reisen fahr ich Zweiter; die Jacht

hier hieß früher ›Nachtigall‹.

Quatsch. Jetzt heißt sie richtig. Manchmal lade ich Willi und Ottmar ein –

nein, Ottmar nicht, der hat mich bei den jungen Aktien

nicht mitgenommen – schließlich werd ich dem Affen doch

nicht nachlaufen, das hab ich nicht nötig; stehen jetzt 192,[228]

193 . . . wo ist denn die Zeitung? –

auf meinem Boot ganz allein.


Das ist meine liebste Erholungszeit,

auf meinem Boot ganz allein.

Kein Mensch ist zu sehen weit und breit –

kann man einsamer sein?

Eine Welle gluckst. Ich bin einsam. Zwar

die Inventur beginnt morgen,

und wie die Sirenen mit schwimmendem Haar

ziehn im See meine Sorgen:


Lilly, Mama und die Wäschefabrik,

die Reparatur von ›Heil und Sieg‹,

Graske und Ottmar, der Egoist;

wer im Silbenrätsel ›Fayence-Maler‹ ist –;

der Krach mit dem Chef von der Expedition;

die Weihnachtsgratifikation –

sonst aber schwimme ich hier im märkischen Sonnenschein –

auf meinem Boot ganz allein.


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 11.09.1928, Nr. 37, S. 413, wieder in: Mona Lisa.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 228-229.
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