Diskretion

[170] Daß Josefine eine schiefe Nase hat;

daß Karlchen eine schwache Blase hat;

daß Doktor O., was sicher stimmt,

aus einem dunkeln Fonds sich Gelder nimmt;

daß Zempels Briefchen nur zum Spaß ein Spaß ist,

und daß er selbst ein falsches Aas ist

in allen sieben Lebenslagen –:

das kann man einem Menschen doch nicht sagen!

Na, ich weiß nicht –


Daß Willy mit der Schwester Rudolfs muddelt;

daß Walter mehr als nötig sich beschmuddelt;

daß Eugen eine überschätzte Charge;

daß das Theater . . . dieser Reim wird large . . .

daß Kloschs Talent, mit allem, was er macht,

nicht weiter reicht als bis Berlin W 8;

daß die Frau Doktor eine Blähung hat im Magen –:

das kann man einem Menschen doch nicht sagen!

Na, ich weiß nicht –


Man muß nicht. Doch man kann.

Die Basis unsres Lebens

ist: Schweigen und Verschweigen – manchmal ganz vergebens.

Denn manchmal läuft die Wahrheit ihre Bahn –

dann werden alle wild. Dann geht es: Zahn um Zahn!

Und sind sie zu dir selber offen,

dann nimmst du übel und stehst tief betroffen.

Die Wahrheit ist ein Ding: hart und beschwerlich,

sowie in höchstem Maße feuergefährlich.

Brenn mit ihr nieder, was da morsch ist –

und wenns dein eigner Bruder Schorsch ist!

Beliebt wird man so nicht! Nach einem Menschenalter

läßt man vom Doktor O. und Klosch und Walter

und läßt gewähren, wie das Leben will . . .

Und brennt sich selber aus. Und wird ganz still.

Na, ich weiß nicht –.


  • [170] · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 20.08.1929, Nr. 34, S. 295.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 170-171.
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