|
[176] Ludvika, Baedeker Seite 219, 408 Kilometer von Gotenburg, Stadshotel, 40 Betten; eine freundliche kleine schwedische Stadt, ein blauer See blinkt . . .[176]
G. AHLMANN
»Haben viele Schweden deutsche Namen?« fragte ich den dicken Borgstedt. Der dicke Borgstedt ist sicherlich der beste ›guide‹ von Stockholm – er spricht viele Sprachen, auch deutsch; weil aber ›Dolmetscher‹ wirklich nicht leicht zu sagen ist, sagt er lieber ›geid‹. – »Nein«, sagte er, »deutsche Namen sind nicht gar so häufig. Dieser hier aber ist ein Deutscher. Ein Holzhändler. Wollen wir ihm guten Tag sagen? Er ist mein Freund. Eine ulkige Nummer.« – Bauernkirchen hatten wir nun genug gesehen, auch alte Schlösser, grüne Plätze, Parks, viele Seen . . . warum sollte man nicht auch einmal einen deutschen Holzhändler besichtigen? Hinein.
»Guten Tag, Herr Ahlmann«, sagte der dicke Borgstedt zu dem beweglichen kleinen Korken, der da hinter dem Schreibtisch elastisch aufsprang. »Dieser Herr ist nach Schweden gekommen, um sich über die Holzpreise zu unterrichten – und weil Sie doch der beste Fachmann der Gegend sind . . . « Mir erstarrte das Blut in den Adern. Knapp bin ich imstande, eine Birke von einem Johannisbeerstrauch zu unterscheiden, und ob man Holz nach Pfund oder nach Litern verkauft, weiß ich auch nicht . . . Ich warf Borgstedt einen verzweifelten Blick zu, der an der ungerührten Fettmasse abprallte. »Sehr geehrt!« sagte Herr Ahlmann. »Bitte nehmen Sie Platz!« Hurra! Er sprach mit vielen getrübten As und Os das Deutsch der hamburgischen Vorstädte, manchmal rutschte er ins Platt, und mir wurde urgemütlich zumute. Die Sache würde schon werden . . .
»Tscha . . . mit den Holz . . . meine Herren«, sagte Herr Ahlmann, »das ist ja nu so eine Sache is das nu ja. Also ich bin ja nu schon fünfunddreißig Dschohr hier in die Gegend, und kann ja nu sagen, es is nich einfach. Nä. Ich bin viel in der Welt rumgekommen, müssen Sie wissen, in England war ich, in Frankreich, in Holland, in Belgien, und immer ohne Geld, sehen Sie – das is eine Kunst! Im Krieg hat mir das deutsche Konsellat immer sone Briefe geschickt, ich soll nu man kommen und mir stellen – verzeihn Sie, wenn ich manchmal falsch deutsch spreche, ich bin all so rraus, und denn hat man ja nich immer Zeit, sich um alle diese Finessen zu kümmern . . . ich hab aber den Konsellat geschriehm: Nö, hab ich geschriehm, ich bin hier als schwedischer Untertan anerkannt, ich hab noch nie einen Menschen totgeschossen, ich will das nich. Sehn Sie, wie Sie mich hier sehn – da bin ich ein ganz fürchterlicher Verbrecher!« – Ich sah.
Ich sah einen freundlichen, dicken Mann, in seinen Augen schwammen Geschäftsschlauheit, rote Äderchen und eine Mindestration von vier Litern Schnaps im Monat; an der Wand tickte eine brave Bürgeruhr, draußen rauschten die hölzernen Bäume; die hier verkauft wurden . . .
[177] »Ein fürchterlicher Verbrecher«, sagte Herr Ahlmann. »Sehn Sie, ich habe im Frieden gedient, bei den 93ern in Hamburg.« (Sagte er: 93er? Es war irgendeine militärische Zahl.) »Na, das war eine Sache, sag ich Ihnen! Also diese Titels . . . ! Schweinehund und Lausekerl und Drrreckkopp – solche Titels waren das! Ich konnte das all gar nicht mehr aushalten. Ich war immer ein selbständiger Kerl, wissen Sie . . . Und eines Tages« (– nun trübten sich bei Herrn Ahlmann die Vokale noch mehr, weil er so erregt war –) »eines Tages, da mußten wir wieder antreten, und da stellte sich denn der Unteroffizier, Jankuhn hieß er, vor mir hin und hat gesagt: Was bist du? Ich hab gesagt: Ich bin der Ahlmann. Da hat er gesagt: Du bist ein ganz verdammter Synagogendiener. Nimm mal die Knochen zusammen!« – Hier stand Herr Ahlmann auf, bewegte sich mit großer Fixigkeit in die Mitte der Stube und stand stramm, mitten auf dem guten Teppich. In der Bewegung, mit der er sich aufbaute, war etwas Professionelles: die Jahrzehnte hatten den alten Drill nicht aus den Knochen bekommen können . . . rrumms, da stand er! Sogar die Augen hatten diesen seltsamen, starren Ausdruck, wie man ihn bei Porzellanmöpsen und überdrillten Soldaten findet . . . Ich wußte: wenn ich jetzt auf den dicken Borgstedt sah, dann war es aus. Ich sah nicht auf ihn.
»Da hab ich ausgeholt und –« (hier machte Herr Ahlmann eine Bewegung, die in besseren Zeiten ein guter Rechtsschwinger gewesen sein mochte) »und hab den Unteroffizier einen in die Fresse gehauen, daß er gleich hinten umfiel. Na, denn gleich alle auf mir drauf, und denn zwischen vier Mann mit aufgepflanzten Seitengewehr abgeführt, in den Arrest. Da gabs ja ein ganz scheußliches Essen gabs da.« (Ich nickte mitfühlend.) »Und da war ein Schersant Poswisteitzky, der sagte gleich: ›Dich wem wir schon kriegen, du Hund! Du wirst fuffzehn Jahr beziehen, du dreckiger Lump!‹ Solche Titels waren das! Und denn kamen die abends mits Essen –« An dieser Stelle klingelte, wie so häufig im menschlichen Leben, das Telefon. Infanterist Ahlmann verwandelte sich blitzschnell in den Holzhändler G. Ahlmann Ludvika, Schweden, und sprang an den Apparat. In einem Schwedisch, dem sogar ich den deutschen Akzent anmerkte, sagte er viele schöne Sachen ins Telefon – wenn Leute handeln, versteht man sie gleich, das ist international. So, nun waren sie wohl einig. – »Da kamen die also mits Essen«, fuhr Herr Ahlmann fort, »und ich schubste sie denn beiseite, und wumm – raus aus die Tür, und den Korridor runter – denn über die Mauer – und los! Ich bin über die Felder gemacht, und bei meine Schwester. Lucie, sag ich, das und das – ich bin ganz unglücklich! Hast du Geld? Na, sie hatte nur zwanzig Mark, und noch ein büschen was, und das gab sie mir denn, und sie hat so geweint, und denn hat sie mir einen Anzug von ihren Mann gegeben, und ich bin denn nach Kiel in ein Hotel, da hab ich Zivil angezogen, und denn[178] ging da noch nachts ein Motorboot nach Dänemark, und da bin ich denn rüber. Und denn bin ich gewandert, aber immer ohne Geld! Immer ohne Geld! Und denn hier in Schweden, in Ludvika, da bin ich denn hängen geblieben, da hab ich denn meine Braut getroffen und hab geheiratet, und jetzt hab ich acht Kinder, alle acht sind noch da, aber in Krrieg, nee, bester Herr, ich hab den Konsellat geschriehm: das will ich nicht! Und wie denn is die Amnestie rausgekomm, da bin ich gleich zu meine Verwandte nach Hamburg gemacht, mit sonne Körbe voll Lebensmittel, na, wissen Sie, die waren ja so ausgehungert, aber ich habe sie alles hingebracht! Und für andere Leute auch und für die Kinder! Wissen Sie –« (und hier sagte Herr Ahlmann das Wort, das merkwürdigerweise so viele Leute sagen, wenn sie einem ihr Leben erzählen) – »ich könnte einen Roman schreiben!« Worauf das Telefon klingelte.
Es entspann sich ein längeres Gespräch, das nie wieder aufhörte. Dieses Mal ging es nicht ums Geschäft, das war gleich zu merken. Es mußte etwas anderes sein. Und plötzlich sprach Herr Ahlmann, der bis dahin sein hartes Schwedisch geklöhnt hatte, deutsch. »Und das sage ich dir«, rief er aufgeregt in die Muschel, »das sag ich dir: Laß dir ja nich mit den andern ein! Ich verbiete dir das! Hörst du! Das verbiete ich dir!« – Und hängte ab. Und dann sah er auf die tickende Uhr, und entschuldigte sich: Aber er müßte zum Frühstück! Was wir begriffen. Und dann standen wir auf. Und dann gingen wir auf die Straße, er zu seinem Frühstück, und wir zu unserm Frühstück.
»Was hat er da ins Telefon geschrien?« fragte ich Borgstedt. »Er hat seiner Tochter gesagt«, antwortete der Dicke, »sie soll keine Dummheiten machen. Gegen das eine Verhältnis hätte er ja als Vater nichts – aber zweie . . . das wären zu viel. Er hat sie gewarnt, wissen Sie?« – Ich wußte. Und wenn dies die Nachtredakteure des Herrn Hugenberg lesen, dann werden sie sagen: Auf der Ehe eines Deserteurs ruht eben kein Segen! Da ist die sittliche Verlotterung nicht weit! –
Soweit der Holzhandel in Nordschweden.
Buchempfehlung
Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro