Indizien

[188] Der Untersuchungsrichter hat den Wächter Richard Schulz aus der Haft entlassen; die berliner Kriminalpolizei hatte ihn als den mutmaßlichen Mörder der kleinen Hilde Zäpernick angebracht. Das scheint unrichtig gewesen zu sein. Zur Sache selbst ist ohne Aktenkenntnis sehr schwer etwas zu sagen. Soweit gut und schön.

»In der Begründung heißt es, daß ein dringender Tatverdacht nicht mehr bestände, daß aber durchaus noch nicht alle Verdachtsmomente aus der Welt geschafft worden seien. Maßgebend für die Aufhebung des Haftbefehls sei gewesen, daß der Wächter Schulz ein vorbildliches Familienleben führe . . . «

Hat man je dergleichen gehört –! Ja, wir hören es alle Tage.

Im großen ganzen kümmern sich die Behörden nicht um dein Privatleben, solange du nicht ›straffällig‹ wirst. Im Augenblick aber, wo du in den Verdacht gerätst, etwas ausgefressen zu haben, werden Fibelvorstellungen kleiner und mittlerer Beamter wirksam, und das, was du so still vor dich hingelebt hast, wird plötzlich ein Indizium! Er hat ein ›vorbildliches Familienleben‹ geführt? Und wenn er das nun nicht getan hätte? Nehmen wir an, dieser Mann sei nicht der Mörder: wenn er aber zum Beispiel – unverheiratet oder nicht – mit Huren gesehen wird, so spricht das also dafür, daß er ein Lustmörder ist! Man sollte den Landgerichtsrat Löwenthal, der das geschrieben hat, mit der Nase tief in die Bücher und mit dem ganzen Korpus noch tiefer ins Leben stoßen, von dem er nichts weiß.

Es ist zunächst eine Überheblichkeit, dieses veraltete Dogma vom ›vorbildlichen Familienleben‹ in einer so ernsten Sache als ausschlaggebend zu buchen. Dergleichen besagt so gut wie gar nichts. Es ist beinah das Gegenteil richtig: ein Mann, der seine vielleicht starken Triebe auslebt, hat weniger Veranlassung, einen Lustmord zu begehen, als ein wohlbehüteter, im engen Kreis der zwei Stuben eingepferchter Mann. Übrigens sind beide Gedankengänge gleich unsinnig – wie jeder Kriminalpsychologe weiß, gibt es für diese Dinge[188] überhaupt keine festen Regeln, man muß von Fall zu Fall mit Intuition und mit Nerven zu fühlen versuchen, was los ist.

Dann aber ist diese Argumentation eminent gefährlich. Ich führe zum Beispiel durchaus kein vorbildliches Familienleben – gerate ich morgen in den Verdacht, einen Menschen beseitigt zu haben, so kann ich dem Landgerichtsrat Löwenthal auswendig diktieren, was er zur Begründung einer langen Haft aufmalen wird.

Ist denn keiner da, der diesen Beamten einmal den Rat gibt, ein bißchen auf die Straße zu gehen – unter Menschen? Sie leben nur unter Beamten, was nicht in allen Punkten dasselbe ist. Und Unschuldige haben es auszubaden.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 17.09.1929, Nr. 38, S. 455.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 188-189.
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