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[96] Was sind wir doch für armselige Menschen! Die Welt beurteilt unser Verhalten nicht nach unsern Beweggründen, sondern nach dem Erfolge. Was bleibt uns da übrig? Man muß Glück haben.
Friedrich II.: ›Rechtfertigung meines politischen Verhaltens‹
Der französische Titel des Buches heißt: ›Le Silence de M. Clemenceau‹ – der deutsche: ›Clemenceau spricht‹; von Jean Martet (erschienen bei Ernst Rowohlt, Berlin).
Erster Eindruck: ein wundervolles, plakatartiges Umschlagbild von Gulbransson. Maler können bekanntlich nur sich selber zeichnen (oder das, was sie nicht sind: ihre Sehnsucht) – der da auf blauem Hintergrund steht, ist alles, nur kein Franzose. Es ist etwas Germanisches in diesem Gesicht, das Clemenceau nicht gehabt hat; diese Gestalt geht zu sehr nach dem Krückstock hinüber, zu Blücher . . . der polternde Alte Fritz . . . aber Clemenceau hatte neben allem andern, wie das Buch wiederum zeigt, eine höchst elegante Geistigkeit und einen bezaubernden Esprit.
Zweiter Eindruck nach dem Durchblättern: ein unangenehmer Kunde.
War er das? Das war er auch. Aber er ist doch auch mehr gewesen. Nämlich:
Zunächst einmal kein ›großer Mann‹. Martet, sein Sekretär, der diese Unterhaltungen aufgezeichnet hat, sieht ihn falsch. »Man wird[96] sich später seiner erinnern. Sein Ruhm wird wachsen.« Es gibt ein Wort im Französischen, das exakt unserem ›Geschmuse‹ entspricht . . . nein, sein Ruhm wird nicht wachsen – weil nämlich jede Zeit ihre eigenen großen Leute hat und nur ganz, ganz selten Anleihen bei einem anderen Zeitabschnitt macht. Warum war Clemenceau kein großer Mann?
Weil er die Deutschen gehaßt hat? Diesen Grund kann nur ein bündischer Nationalsozialist anführen – einer von denen, die die Nationalisten im eigenen Lager hochpreisen und die der anderen in Grund und Boden verdammen. Das ist ja dumm. Clemenceau hat unendlich viel für sein Land getan und sehr viel gegen sein Land, weil er nämlich viel gegen Europa getan hat. Ich halte seine politischen Diagnosen fast alle für richtig (worüber sich diskutieren läßt) und seine Therapie für ganz und gar verfehlt (worüber sich gar nicht diskutieren läßt). Eine modische Torheit pflegt ›den Politiker‹ und ›den Menschen‹ fein säuberlich zu trennen, was deshalb töricht ist, weil ja niemand den ›Menschen‹ in der Garderobe abgeben kann. Dieser da ist kein großer Mann. Er bezaubert zunächst durch seinen Zynismus; aber es ist ein leerer, ein nihilistischer Zynismus – es ist das vollständige Gegenteil von Weisheit –, Goethe hätte gesagt: »Merkwürdig, wie man in seinem Alter noch so radikal sein kann!« Es ist die gefährliche Grundstimmung des Alters: Ich bin nicht mehr am Ruder, die anderen machen alles falsch – soll doch die ganze Welt zusammenfallen! Sie fällt aber nicht. Der Mann wirkt manchmal in seinen Gesprächen wie ein uralter Stein in einer satten Sommerlandschaft. Mürrisch steht er da und spielt nicht mit: die Natur hat unrecht, scheint er zu sagen. Aber das gibt es nicht.
Eindeutig ist diese Erscheinung nicht. Clemenceau hat ein gut Stück Weltgeschichte gesehen: von der Kommune bis zum Spiegelsaal in Versailles, und was dazwischen liegt, hat er in Frankreich zum Teil maßgebend beeinflußt. Er weiß viel, und nicht nur, was Politik ist. Manchmal trifft er es ganz. Diese Stelle zum Beispiel könnte bei Tolstoi stehen: »Sie sprechen zu sehr aus dem Gesichtswinkel dessen, der nur einen Teil des Geschehens gesehen hat . . . einen oder zwei oder drei Ausschnitte des Kriegstheaters . . . und es gab auch überall Unordnung, Unsinn, Vergeudung . . . aber trotzdem herrschte ein Gesetz in alledem, und aus der Zusammenhanglosigkeit kristallisierte sich so etwas wie eine Vernunft. Darin besteht grade die Kunst des Krieges: Man muß alles in Rechnung stellen, die Begriffsstutzigkeit und die Borniertheit der Menschen, Dinge, die nicht vorwärtskommen. Und damit muß man den Sieg schaffen!« Das hat Größe; so spricht ein echter Politiker.
Sehr typisch für die Geistesverfassung des Mannes ist, daß er – während in Deutschland die nationalistischen Hofhunde vom ›Verrat‹[97] Stresemanns heulten – seinen Leuten genau dieselben Vorwürfe macht. Briand! Poincaré! Millerand! Alles haben sie aufgegeben! Sabotage! Der Friedensvertrag ist dahin! Wo sind die Errungenschaften des Krieges . . . ? Wie sich diese Nationalisten gleichen . . . !
Was der ›Vater des Sieges‹ an geschichtlichen Erinnerungen gibt, ist immer fesselnd, sicher sehr oft unrichtig. Was ihn ehrt, ist die Art, mit der er über den furchtbaren weißen Terror spricht, der in Paris nach der Kommune gewütet hat. Wie da die Bewohner eines Hauses von ihrem Portier abhingen – wenn der einen denunzierte, war der Mieter verloren; wie die alten Militäranwärter noch nachher auf die Frage, ob sie nicht ›schöne Dinge‹ in der weißen Armee von Versailles erlebt hatten, ganz gleichmütig antworteten: »Mein Gott, liebes Fräulein, schöne Dinge? Wie man es nimmt. Ich kann Ihnen nur das eine sagen: Meinen letzten Schuß habe ich aus nächster Nähe einer Frau in den Bauch geschossen.« Ja, ja . . . Ordnung muß sein . . .
Clemenceaus Urteil über Jaurès, in dem er »etwas Böses« sieht, halte ich für grundverfehlt. Den hat er überhaupt nicht verstanden – so, wie er nichts verstand, das nicht nur ›Macht‹ war . . .
Der Mann mochte seine Fehler gehabt haben; Harden warf ihm in einem Aufsatz, auf dessen Barock-Ornamenten der Staub heute schon fingerdick liegt, völlige Ignoranz in Wirtschaftsdingen vor . . . aber Geist hat er gehabt. Dieses Buch wimmelt von ›mots‹, von jenen kurzen prägnanten Aussprüchen, die mehr sind als eine Paradoxie – eine lustige Wahrheit. Humor mit Kupfervitriol, Ironie mit Schwefelsäure und ein Witz, mit dem man Steinbrüche sprengen kann.
»Zur Zeit schwanke ich zwischen dem Wunsch zu leben, um das Meer zu betrachten, und dem Wunsch zu sterben, um Léon Blum nicht mehr sehen zu müssen.« – »Er hat gewiß diese Welt verlassen, ohne erkannt zu haben, was der Tod bedeutet. Nun hat er ja die ganze Ewigkeit, um darüber nachzudenken.« – (Von einer Rose): »Sie sieht aus wie ein junges Mädchen, dem man etwas Gewagtes gesagt hat.« – Bezaubernde Bosheiten gegen die Kirche, gegen alle Kirchen. Anekdoten die Fülle . . . ein Untier aus dem Märchen, das Kinder frißt und die Flöte blasen kann.
Die Übersetzung ist befremdend. Die Übersetzer, Franz Hessel und Paul Mayer, können natürlich genug Französisch, um zu sehen, was sie da gemacht haben. Sie haben wortwörtlich übersetzt. Ich halte das nicht für gut. Das kann nur einer, mit aller Grazie seines Stils: Franz Blei. Wir andern täten gut, so zu übersetzen, daß etwas Deutsches herauskommt – dieses Buch aber klappert daher wie eine Übungslektion aus dem seligen Plötz: »Der Onkel meines Bruders hat ein Gewehr.« Wenn der Sekretär in ein Gespräch einfügt, daß er nun aufstehe, dann heißt es: »Ich erhebe mich.« Na, hör mal . . . Von Schuljungen: »Sie trugen die frechen Näschen hoch, nahmen kein[98] Blatt vor den Mund und hatten Sonne in den Augen.« So – nun noch einmal das Ganze auf französisch. Und wenn einer im Gespräch »unverzüglich« sagt, so geht das noch an – aber wenn es heißt: »Er ist Holzhändler und traurig«, so ist das glattweg komisch. So sollte man wohl nicht übersetzen.
Dagegen hat das Buch ein wundervolles fotografisches Material; Bilder Clemenceaus aus allen Lebensaltern – und einmal ist er mit seiner Köchin abgebildet, die aussieht wie der gesunde französische Menschenverstand. Damit kann man sehr gut kochen.
Der Mann hat in fünfzig Jahren seines öffentlichen Lebens viel Schmutzereien gesehen, er hat ein ausgiebiges Moorbad in dem genommen, was man auf der Welt Politik, Journalismus, Finanz, Ehrgeiz, Machttrieb, Eitelkeit und die Ehrenlegion nennt – er macht eine müde Handbewegung: ich kenne sie . . . ich kenne sie . . . Dann flüchtete sich der alte Heide zu den Steinen, zu den Blumen und an das Meer . . . Aber ich kann mir nicht denken, daß ihn die Blumen geliebt haben, wie sie seinen Freund, den Maler Monet, geliebt haben mögen. Er strahlte Kälte aus und Kühle, schwärzliche Finsternis und die Frostigkeit eines nicht zu schmelzenden Herzens.
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