»Das kann man noch gebrauchen –!«

[188] Es sind ja wohl die herztausigen Amerikaner, die die verschiedenen ›Wochen‹ erfunden haben: die Bade-Woche, die Unfallverhütungs-Woche und die Mutter-Woche und die Zähnefletsch-Woche . . . und was man so hat. Und einmal war auch die ›Bodenaufräumungs-Woche‹ dabei. Gar kein schlechter Gedanke . . .

Denn nur bei einem Umzug oder, was dem nahe kommt, bei einem Brandunglück entdeckt die Familie, was sie alles besitzt, was sich da alles angesammelt hat, wieviel man ›aussortieren‹ muß, müsse, müßte . . .

Auf dem Boden, im Keller und in heimtückisch verklemmten Schubladen ruht der irdische Tand. Als da ist:

Fünf Handschuhe (Stück, nicht Paar, und immer eine ungerade Zahl); acht Bleistiftstummel; ein Tintenwischer, unbenutzt (Geschenk von Fritzchen – »Wirf das nicht weg, man kann das noch gebrauchen!«); ein Porzellanschäfer ohne Kopf; ein Kopf ohne Porzellanschäfer; ein Bohrer; ein Haufen Flicken; 40 Prozent alte Kaffeemaschine; eine durchlöcherte Blechbadewanne; siebzehn Holzknebel, für zum Paketetragen; Emailletöpfe mit ohne Emaille; ein Füllfederhalter; noch ein Füllfederhalter; eine wacklige Petroleumlampe; Flicken.

Manchmal sucht die Hausfrau etwas – dann stößt sie auf einen[188] Haufen Unglück. Sie verliert sich darin, taucht unter, kommt erst spät zu Mittag wieder hervorgekrochen, staubbedeckt, mit rotem Kopf und abwesenden Augen, wie von einer Reise in fremde Länder . . . »Denk mal, was ich da gefunden habe! Paulchens ersten Schuh!«

Wie kommt das –? Warum ist das so –? Warum heben die Leute das alles auf –?

Sie heben es gar nicht auf. Sie können nur nicht übers Herz bringen, es wegzuwerfen.

Wenn es so weit ist: wenn der Füllfederhalter zerbricht, wenn der Porzellanschäfer den Kopf verliert, wenn die Handschuhe nicht mehr schön sind –: dann wiegen die Menschen einen Augenblick den Kopf nachdenklich hin und her. Da steht der Papierkorb und sperrt höhnisch das Maul auf, hier sieht ihn der oft gebrauchte Gegenstand traurig an, der Invalide – was nun? Da kann er sich nicht entschließen – vor allem: da kann sie sich nicht entschließen. Männer sind rohe Geschöpfe (wenn sie nicht gerade den Schnupfen haben – da benehmen sie sich wehleidiger als eine Frau, die ein Kind kriegt), Männer sind roh und werfen wohl manches fort. Aber Frauen . . .

Der Amerikaner wirft alles fort: Tradition, alte Autos, sein Geburtshaus, Staubsauger und alte Stiefel. Warum? – Weil das neue nicht gar so viel kostet; weil dort kein Mensch und kein Unternehmen auf langwierige Reparaturen eingerichtet ist – weil das niemand verstände, daß man einen Gegenstand um seiner selbst willen konserviert, wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht. Fort mit Schaden. Der Europäer aber ist anhänglichen Gemütes und bewahrt sich alles auf. Zum Beispiel in der Politik . . . hoppla – det jeht mir jar nischt an. Aber in der Wirtschaft hebt er und hebt sie alles auf.

»Gib das mal her! Schmeiß das nicht weg! Immer schmeißt du alles weg! Was ich damit noch will? Das ist gar keine alte faule Kiste! Was die soll? Da kann man alte Handschuhe drin aufbewahren! Natürlich habe ich alte Handschuhe! Na, im Moment nicht – aber man hat doch alte Handschuhe! Wozu ich alte Handschuhe aufbewahre? Na, du bist aber komisch! Wenn man mal . . . also für aufgesprungene Hände . . . eben . . . überhaupt braucht man in der Wirtschaft immer alte Handschuhe . . . !« Und wenn nachher umgezogen wird, dann steigt dieses Reich des Moders ans Licht, und Gott der Herr verhüllt sein Antlitz, wenn er das mitansehen muß . . .

Viele unter uns sind noch gar sehr sentimental; wenn sie mit einem Gegenstand eine Zeitlang gelebt haben, dann haben sie mit ihm kein Verhältnis gehabt, sondern sie sind mit ihm verheiratet gewesen – und da trennt man sich doch nicht so eins, zwei, drei . . . Jedenfalls schwerer als in einer wirklichen Ehe. Das schöne Tintenfaß . . . Na, ja, es hat einen kleinen Knacks . . . aber vielleicht . . . als zweite Garnitur . . . Und dann bewahren sie es auf. Und da liegt es und frißt Staub.

[189] Merk:

Was nicht griffbereit ist, was man nicht nachts um zwei Uhr finden kann –: das besitzt man nicht. Das liegt bloß da. Es ist so, wie wenn man es weggeworfen hätte.

Merk:

In neunundneunzig Fällen von hundert lohnt es sich nicht, ein Ding aufzubewahren. Es nimmt nur Raum fort, belastet dich; hast du schon gemerkt, daß du nicht die Sachen besitzt, sondern daß sie dich besitzen? Ja, so ist das.

Merk:

Ein einziges billiges und brauchbares Rasiernäpfchen ist mehr wert als drei teure, die verstaubt auf dem Boden liegen, weil man sie doch noch mal gebrauchen kann. Wozu? Der Aufbewahrende konstruiert sich dann gern Situationen, die niemals eintreten. »Man könnte doch mal . . . also wenn wir zum Beispiel mit Flatows einen Ausflug nach dem Stölpchensee machen, und die Kinder wollen sich mal im See Frösche fangen und die Frösche mit nach Hause nehmen – dann ist der Rasiernapf noch sehr schön!«

Aber die Kinder von Flatows fangen keine Frösche, denn sie haben selber einen zu Hause, und noch dazu einen, der bei schlechtem Wetter singt . . . und dann hat diese Familie auch ihrerseits genügend Gefäße, und überhaupt, was geht dich das an? Du meinst das auch gar nicht. Es ist eine atavistische Hochachtung vor dem Ding, stammend aus der Zeit, wo ein Gegenstand noch mit der Hand hergestellt wurde . . . Heute speien ihn die Maschinen aus – wirf ihn weg! wirf ihn weg!

Glatt soll es um dich aussehen, griffnah und ordentlich. Hinter den Kulissen deines Daseins soll kein Moderkram von Ding-Leichen liegen: psychoanalysiere dein Besitztum und laß nicht in verstaubten Ecken dein altes Leben gären. Es lohnt nicht; es lastet nur. Wie weit du damit gehen willst, ist Geschmackssache und Alterssache. Gewiß, es gibt moderne Möbel, von denen ein witziger Frankfurtammainer gesagt hat, sie seien für die Wohnung nur konstruiert, damit man sich beim Zahnarzt wie zu Hause fühle . . . aber laß Licht in alle deine Ecken. Und höre nicht auf die Stimme deiner Frau, die dir sonst so gut rät; wenn sie aber sagt: »Man kann das noch gebrauchen!« – dann denk an den großen Kasten mit alten Schlüsseln, die du immer, immer noch aufbewahrst, Schlüssel, zu denen die Schlösser verloren gegangen sind . . . Kann man das noch gebrauchen? Das kann man nicht mehr gebrauchen.

Die Basis jeder gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.


  • [190] · Peter Panter
    Neue Leipziger Zeitung, 19.08.1930.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 188-191.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon