Augen in der Großstadt

[69] Wenn du zur Arbeit gehst

am frühen Morgen,

wenn du am Bahnhof stehst

mit deinen Sorgen:

da zeigt die Stadt

dir asphaltglatt

im Menschentrichter

Millionen Gesichter:[69]

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider –

Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .

vorbei, verweht, nie wieder.


Du gehst dein Leben lang

auf tausend Straßen;

du siehst auf deinem Gang,

die dich vergaßen.

Ein Auge winkt,

die Seele klingt;

du hasts gefunden,

nur für Sekunden . . .

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider;

Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .

Vorbei, verweht, nie wieder.


Du mußt auf deinem Gang

durch Städte wandern;

siehst einen Pulsschlag lang

den fremden Andern.

Es kann ein Feind sein,

es kann ein Freund sein,

es kann im Kampfe dein

Genosse sein.

Es sieht hinüber

und zieht vorüber . . .

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider.

Was war das?

Von der großen Menschheit ein Stück!

Vorbei, verweht, nie wieder.


  • · Theobald Tiger
    Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 11, S. 217, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 69-70.
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