Auf dem Nachttisch

[195] Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf Bände, die die Welt erschütterten.

Einer der wenigen Männer, die diesen Mann richtig sehn, scheint Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhmes kann er die faulen Apfel seiner Tadler garnieren, und wenn er weise ist, sieht er die Schar seiner Schüler an und denkt sich sein Teil. Lassen wir die schlechten Schüler, halten wir uns an die guten und halten wir uns an ihn.

Es ist das Schicksal der Wahrheiten, hat Schopenhauer gesagt, daß sie erst paradox erscheinen und dann trivial. An Freud ist das genau zu studieren. Die Gesamtausgabe seiner Schriften zeigt aber noch etwas andres.

[195] Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu lösen, das Zufällige, das Alltägliche – und es bleibt das Skelett. Wir können nicht sehen, was davon noch im Jahre 1995 lebendig sein wird, und ob überhaupt noch etwas lebendig sein wird, nämlich in der Form, die er ihm gegeben hat. Fortwirken wird es, das kann man sagen. Er hat eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war.

Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den ersten, die muten an wie ein spannender Kriminalroman. Wie da die Theorien langsam keimen und aus den platzenden Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans Licht wagen, ins Helle sehn und plötzlich sehr bestimmt und fest auftreten: nun sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungskunst Freuds ist fast überall die gleiche: in den grundlegenden Schriften, in den kleinen Aufsätzen, so in dem wunderschönen Gedächtnisartikel für Charcot – überall ist ein klarer, methodisch ordnender Geist am Werk.

Das Modische an diesen Schriften wird vergehen; die kindische Freude der Amerikaner und sonstiger puritanisch verbildeter Völker, nun einmal öffentlich über Sexualität sprechen zu können . . . das hat mit Freud nicht viel zu tun. Bleiben wird der große Erneuerer alter, verschütteter Wahrheiten – der Wahrheit: der Wille des Menschen ist nicht frei.

Das schön gedruckte und gut gebundene Werk ist im Internationalen Psychoanalytischen Verlag zu Wien erschienen. Es finden sich darin auch die jüngsten Schriften Freuds, auf die immer wieder hingewiesen werden muß, als letzte die ›Zukunft einer Illusion‹. Es fehlt noch das ›Unbehagen in der Kultur‹; ein zwölfter Band wird erscheinen. Die Grenzen Freuds werden in seinem Gesamtwerk erkenntlich. Er ist nicht der liebe Gott, doch hat er uns gelehrt, wieviel Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über ihn zu finden ist. Für halbgebildete Katholiken sei gesagt: es ist die Bibel der Gottlosen. Joseph Wirth darf das falsch zitieren. Man versteht die Welt nicht, wenn man diese Bände nicht kennt. Sigmund Freud wird am sechsten Mai fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und Respekt.

Nach diesem beherzigenswerten Vermerke fahren wir fort im löblichen Werke. Willy Haas ›Gestalten der Zeit‹ (erschienen bei Gustav Kiepenheuer, Berlin). Essays aus vielen Bezirken: France, Barrès, Tolstoi, Ludendorff, Werfel und Kafka; Totenmasken und das rapprochement . . . in dem Bändchen werden viele Themen angeschlagen. Manches ist wundervoll im Einfall, so etwa die Parallele von Theologie und Kriminalroman, wie überhaupt eine gute dogmatische Vorbildung den Autor befähigt, zum Beispiel so eine Erscheinung wie die Ludendorffs besser zu sehen als das andre vermocht haben. Manches habe ich nicht verstanden: für eine so hymnisch-getragene Untersuchung über Hofmannsthal muß ich mich inkompetent erklären, das müssen[196] die Österreicher unter sich abmachen, unsereiner hat da wohl nichts zu suchen. Ich glaube davon nicht eine Silbe. Haas, ein Mann von viel Bildung, Wissen und Geschmack, hat nur einen Fleck: das ist der Literaturjargon, in dem er oft schreibt. Tut ers nicht, dann blinkt das nur so von Klarheit, und alles ist treffsicher und rational untermauert; tut ers, dann kullern ihm die Modewörter dahin, und dieses Gemisch von philosophischen, soziologischen, medizinischen, psychologischen Brocken gibt keine gute Suppe. Möge er doch seine eigne Sprache sprechen und nicht die jener Knaben, die nachts um halb eins Laotse mit Carus gleichsetzen, weils schon gleich ist. Haas gehört nicht zu ihnen – er soll auch nicht ihren Jargon schreiben.

Dieser Essayband ist ein Buch mit Einfällen, ein reiches Buch, das den Leser reizt, die behandelten Themen seinerseits zu studieren. Die Aufsätze von Willy Haas erscheinen fortlaufend in der ›Literarischen Welt‹; hoffentlich ist dies nicht sein letzter Auswahlband.

Matwey Liebermann ›Im Namen der Sowjets‹ (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin). Ein moskauer Sling berichtet aus den russischen Gerichtssälen. Das ist sehr beachtlich, diese Gerichtschronik der ›Prawda‹. Um so beachtlicher, als es sich hier nicht um große Affären handelt, wie etwa den Ramsin-Prozeß; über den mag man ›Spione und Saboteure‹ (erschienen im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin) nachlesen. Liebermann gibt den Alltag, Alltagsprozesse, Mord und Totschlag, wie sie in jedem Lande vorkommen. Nur die Färbungen sind verschieden. Hier so:

Ob das nun am Berichterstatter oder an den prozeßführenden Organen liegt, es geht eine Art Fibelton durch das Buch, Nun kann ich nicht russisch; ich höre also den Ton nur in der Übersetzung, und da mag er unrein klingen. Aber es ist etwas von erhobenem Zeigefinger, vom braven und vom bösen Russen; doch wenn das Auditorium höhnisch dazwischen ruft, weil der ungeschickte und ›nicht sympathische‹ Angeklagte dumme Ausreden vorbringt, so ist das schließlich nichts andres als das, was jedes Gerichtssaalpublikum auf der ganzen Welt empfindet. Es wird aber hier um neunzig Grad gedreht, und man hat manchmal den Eindruck, in einem Kindergarten zu sein. Vielleicht ist diese strenge, dogmatische Behandlung der Angeklagten notwendig, vielleicht muß die neue Sittlichkeit, die die Russen realisieren wollen, erst in die Gehirne gehämmert werden, und zwar so und nicht anders –: das kann ich nicht beurteilen. Soweit es sich um eindeutige politische und sowjetfeindliche Akte handelt, ist das verständlich; geht es ins Gefühlsleben hinab, so trennt mich von dieser Anschauung eine Welt. Ich weiß sehr genau, daß das Dreieck von zwei Männern und einer Frau in seiner Auswirkung auch vom Wirtschaftlichen abhängig ist. Das aber, was hier getrieben wird, muß zum Klischee führen, auch in der Beurteilung solcher Gefühlsverwirrungen. Noch hat man nicht[197] den Eindruck, daß die urteilenden Genossen Pharisäer seien – durchaus nicht. Der Weg, den sie gehen, kann sie jedoch dahin führen, es zu werden. Es ist eine andre, uns ferne, fremde und dünne Luft, in der geurteilt wird. Gewohnt, alles was geschieht, in seinen Wirkungen auf das Individuum zu beziehen, sehe ich die Wirkungen dieser Justiz nicht klar vor Augen. Freilich haben wir als Angehörige von Staaten, in denen die Justiz so im argen liegt, überhaupt keine Veranlassung, uns in Vergleichen zu überheben – schlimmer, dümmer, verrotteter und gemeiner als die durchschnittliche bürgerliche Rechtsprechung mit ihren verhärteten Spießern, von denen kaum einer weiß, was Schuld, Reue und Strafe ist . . . so schlimm wie bei uns kann es in Rußland nicht sein. Man fertige nicht so viel Psychologien über Verbrecher an; man schreibe eine Psychologie, die dartut, wie es in den Köpfen der Staatsanwälte und der Richter aussieht, und warum es da so aussieht, und man wird Merkwürdiges zu sehen bekommen. Das russische Strafrecht zeigt sich in diesem Buch von seiner besten Seite, und dieses Recht ist gut. Die Richter tun das gleiche – aber es sind Russen, und ich kann sie nicht ganz verstehn; auch in ihrem Rationalismus nicht, grade da nicht. Denn er ist keiner.

Die Bucheinbände John Heartfields werden immer besser; dieser ist wieder sehr geglückt, besonders die Fotos auf der Rückseite. Viel kopiert, nie erreicht.

Weil wir grade bei den Gerichteten sind: ›Menschen im Zuchthaus‹ von Lenka von Koerber (erschienen im Societäts-Verlag zu Frankfurt am Main). Brav, aber das ist kein neuer Weg; nicht brav. Es ist doch alles wieder von oben nach unten gesehn; die Bestraften sind eben doch eine andre Rasse, und es ist gar nichts, gar nichts. Sicherlich kann diese Frau in der freiwilligen Anstaltshilfe viel Gutes tun, aber ihre Anschauungen von Schuld und Sühne sind ganz und gar bürgerlich, also unbrauchbar. Lenka, schauen Sie nicht auf die Strafanstaltsdirektoren, mit denen Sie da zu tun haben – das sind keine Lehrmeister, sondern in ihrer Mehrzahl Gegenbeispiele. Schlagen Sie sich an die Brust, Lenka – nur wer sich einmal wirklich schuldig gefühlt hat, denken Sie, ohne von einem Richter verurteilt worden zu sein –: nur der weiß, was das ist: Strafe. Zuchthaus? Diese Zucht ist eine miserable Zucht, eine verdammte Zucht, eine Unzucht.

Warum übrigens fast alle schreibenden Frauen den zusammengesetzten, substantivierten Infinitiv anwenden! Dieses Musikalisch-schreibenwollen, aber Nicht-hinten-hochkönnen – das ist wirklich keine Freude.

Nur aus Spaß angezeigt und nur für Leute, die das Büchlein gratis einsehen können: ›Kaplan Fahsel in seinem Werdegang unter Zuhilfenahme seiner Briefe und Aufzeichnungen‹ dargestellt von Henriette v. Gizycki (beim Buchverlag Germania in Berlin erschienen). Na, und[198] so ist es denn auch. Man hält es wirklich nicht für menschenmöglich, worauf alles die Leute hineinfallen. Das Werk der Verfasserin und diese selbst kann ich nicht charakterisieren: ich komme sonst ins Kifänknis. Und das ist die Sache wieder nicht wert. »Ich hoffe, daß dieses Schriftchen zum Verständnis des eigenartigen Werdeganges eines Mannes unsrer Zeit beiträgt.« Husch-husch; das tuts.

›Stempellieder‹ von Franz Zorn (erschienen als Sonderheft des ›Sturm‹, Dezember-Heft 1930. Im Verlag des ›Sturm‹, Berlin W 15).

Schade. Das könnte etwas sein. Es ist aber nur der zerbrochene Aufschrei eines zerbrochenen Bürgers, der – mit aller Ehrfurcht vor seiner Not sei es gesagt – im Augenblick, wo er eine Stellung hätte, mit dem kapitalistischen System durchaus zufrieden wäre. Es ist die ausweglose Hoffnungslosigkeit eines, der noch nicht den Weg zur Arbeiterbewegung gefunden hat, ohne den solcher Not eben nicht beizukommen ist. Das Parteibuch allein genügt gewiß nicht; das Gedichtbuch aber auch nicht. Es sind ein paar sonderbare Zeilen in dem Heft; am besten die, wo alte, einmal gehörte Formen und Versfetzen durch die Gedichte geistern. Verzweiflung allein ist kein Agens in diesem Kampf, der zu führen ist.

Nach diesem durchaus politischen Vermerke fahren wir fort im löblichen Werke. Karl Benno von Mechow ›Das Abenteuer‹ (erschienen bei Albert Langen in München). »Ein Reiterroman aus dem großen Krieg.« Hei, Hornist, blas' ins Horn! Welchen Krieg meint ihr itzt? Er meint die letzte große Industrie-Schlachterei. Doch gehts nimmer so in dieser Scharteke zu; bey der heiligen Sankta Barbara, mitnichten!

Das Buch ist wunderhübsch geschrieben; wenn es als Märchen herausgekommen wäre, wärs gar nicht übel. Es ist ein ästhetischer Krieg; ein pflaumenblauer Herbst-Krieg, mit Ritten durch die regenschweren Baumalleen des Ostens . . . sicher ist das auch so gewesen, und wenn man von der gewissen übermanierlichen Geziertheit eines Salonrauhreiters absieht, ist die Lektüre freundlich und heiter. Das müßte so ein Buch für den Kulturdichter Binding sein – der liebt diese sauber gebürstete Romantik. Allerdings schwätzt Mechow lange nicht so falsch-gescheit daher und ist nicht halb so reaktionär wie jener, der Liebling gut-liberaler Kreise. Der Stil Mechows ist bezeichnend für ein ganzes Bücherbrett voll Kriegsbüchern: leicht geziert. Da, wo er rauh ist, ist er es in Anführungsstrichen – haben die Unteroffiziere bei der Kavallerie nicht so gesprochen: »Von dem wollte ich erzählen. Das ist einer, so einen sah ich noch nie«? Genau so haben sie gesprochen. Man hat, wenn man das Buch liest, niemals das Gefühl, als könnten bei dieser Reiterunternehmung auch Leute sterben, Söhne, Familienväter, verkleidete Papierwarenhändler und Büroangestellte, zu Hause steht die Frau nach der powern Rente an . . . nicht doch. Stören Sie die Romantik nicht, Herr!

[199] Sehr bezeichnend, daß dieses Buch im Osten spielt. Im Westen gabs das alles nicht. Und nach dem Westen sind auch niemals Freikorps gezogen, in diese so verdammt zivilisierte Gegend, wo nach 1918 jedermann die Recken mit Stahlhelm und Sturmband gefragt hätte: »Die Herren haben wohl einen kleinen sitzen?« Landsknechts-Romantik blüht vorwiegend im Dreck und in der Weite unordentlich bestellter Felder.

Manchmal blüht sie aber auch am Telefon, am fotografischen Apparat und in der sauberen Schweiz. Das Zeitalter der Spionenbücher ist angebrochen, dieser patriotischen Detektiv-Schmöker.

»›Die Weltkriegs-Spionage‹ (Original-Spionage-Werk); im Verlag Justin Möser, München, Abteilung Vertriebsstelle amtlicher Publikationen und Veröffentlichungen aus Kriegs–, Militär–, Gerichts- und Reichsarchiven.« Uff. Und so ein dickes Buch! Wenn man damit einen Kriegsgerichtsrat vor den Kopf haut . . . er bleibt leben. Denn diese Köpfe sehn innen zum Beispiel so aus: »Zum Schluß möchte ich nur noch der erst kürzlich wieder von Professor Doktor Louter gebrachten Behauptung entgegentreten, der Exkaiser habe die Verurteilung Miss Cavells bedauert. Dies ist völlig unzutreffend.« Sicher. Der und bedauern –!

Also lassen wir diesen teuren Prachtschinken beiseite und wenden wir uns einem erschwinglichen Bändchen zu: ›Vorsicht! Feind hört mit!‹ Herausgegeben von Hans Henning Freiherrn Grote (erschienen im Verlag von Neufeld & Henius in Berlin). Das Ding hat 150 Bilder; für ein Schreckensmuseum gegen Krieg und nationale Barbarei lohnt sich der Ankauf sehr.

Das Buch ist ein Dokument vaterländischer Raserei, ein Leckerbissen für jeden Psychiater, der kein Patriot ist. »Die Spionage ist ein Dauerzustand unter den Völkern, der sich in seiner Existenz um Krieg oder Frieden nicht kümmert, denn sie ist geboren aus der klaren Erkenntnis, daß immer Kampf unter den Menschen und Nationen sein wird bis in alle Ewigkeit.« Gottseidank, heißt dies, Gottseidank: denn nun sind wir, mit unsern Anlagen, die wir im Frieden nicht zu verwerten wissen, unentbehrlich. Das Buch enthält viele solcher Perlen: Textstellen und Bilder.

Text: »Es wurde bei uns sogar versäumt, dem deutschen Soldaten und dem deutschen Volke eindeutig und klar zu sagen, wofür sie kämpften.« Hoppla – ein kleiner Betriebsfehler. Aber wissen wir es heute? Heute wissen wir es. Wofür? Für einen Schmarrn. Und keine weinende Mutter, die sich eine Ideologie für den Verlust ihres Sohnes zurechtmachen muß, um noch leben zu können, kann daran etwas ändern.

Manchmal machten diese allerchristlichen Staaten einander Konkurrenz, um sich gegenseitig die Soldaten abspenstig zu machen.[200] »Werteste deutsche Soldaten!« fängt ein französischer Werbezettel an. Wenn sie sie nachher hatten, sprachen sie ganz anders, nämlich eine Sprache, die jeder Allerwerteste verstanden hat.

Man erfährt bezaubernde Dinge. Der große schwedische Radierer und Maler Anders Zorn war dem Berliner Polizeipräsidium ›spionageverdächtig‹, ein damals geläufiger Terminus, mit dem die Irren ihre Wahnvorstellungen zu benamsen pflegten – Zorn aber wäre, von andern Gründen abgesehen, viel zu faul gewesen, sich mit Politik zu befassen; d'Annunzio wird kontinuierlich Rappaport benannt, und man weiß nicht, worüber man mehr lachen soll: über diese Deutschen, die ihn damit zu vernichten glauben, oder über d'Annunzion; von der großen Literatur der gequälten Matrosen hat der Verfasser nichts gehört, denn für ihn ist die Matrosenrevolte in Kiel von den Engländern gemacht; Battisti wird als Spion bezeichnet, was eine Lüge ist, das ist er nie gewesen; wenn die Franzosen einen erschießen, so ist es ein ›angeblicher Spion‹, und schmatzend wird von den Untaten rheinischer Anti-Separatisten berichtet. Die erzählen: »Unterwegs begegneten wir einem Lastauto, besetzt mit Separatisten. Nachdem wir diese beerdigt hatten, setzten wir unsern Marsch mit selbigem Lastauto fort.« Ich höre einen spitzen, schrillen Schrei, er rührt von einer Eierstockträgerin her und klingt wie: »Bravo!« Und auch so etwas kriegt Kinder und heißt Mutter.

Die Bilder dieses Bändchens aber sind manchen Kupferpfennig wert. Wie der Wahnsinn ›Staatsgrenze‹ durch die Abbildung des elektrischen Zaunes zwischen Belgien und Holland klar erkennbar wird: hier Mord Pflicht, dort Mord verboten; wie Menschen erschossen werden und fallen – es ist sehr lehrreich. Der Höhepunkt aber dürfte wohl das Bild auf Seite 176 sein.

Die lieben Bundesbrüder pflegten ja die Angehörigen ihrer Völker, die unter Habsburgs Zepter indivisibiliter vereinigt waren, stückweise aufzuhängen, wenn sie anders mit ihnen nicht fertig wurden. Man sieht also in einer Serie von Bildern:

Drei russische Spione, zwei Männer und eine Frau, sie in der Mitte, stehen an Kreuzen. Drei Kreuze in einer Reihe? das muß ich schon mal irgendwo gesehn haben. Jeder auf einem kleinen Podest von Tischen, die man unter ihnen aufgeschichtet hat. Der dritte Mann rechts, der zuletzt an die Reihe kommen wird, hat nur ein Bein, das andre ist ihm bis übers Knie amputiert. Das macht aber nichts. Die Bundesbrüder reißen der Frau die Tische weg, sie hängt – haben Sie das mal gesehn? Es ist reizend. Dann dem zweiten. Der dritte, der Einbeinige, sieht inzwischen ein bißchen zu, er hat den Kopf dorthin gewendet, niemand hat den Leuten die Augen verbunden, und der Einbein wartet nun, wann die Henkersknechte im Kaiserrock, Gott erhalte, auf ihn zugehen. Zum Schluß sieht man die drei Menschen[201] baumeln, und viele umgestoßene Tische vor ihnen. Die Schweine hatten gefressen, da stießen sie die Tische um. Sie waren damals reich gedeckt, diese Tische.

Ich weiß nicht, was diese drei Leute begangen haben. Ich weiß nur eines:

So groß kann keine Untat sein wie das Verbrechen der Kriegsgerichtsräte auf allen Seiten, der Generale auf allen Seiten. Wie sah das Gesicht des Kontinents damals aus! So angegriffen! Und daher mußten sich alle verteidigen. Die Patzer sind früher zu den Huren gegangen und haben sie geprügelt, für Geld. Die Patzer! Was brauchen wir die Huren! Wir haben einen Feind, wir haben das Vaterland, und wir haben so schöne Kriege.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 05.05.1931, Nr. 18, S. 656.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 195-202.
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