Der Predigttext

[239] Bei einem skandinavischen Kurort – »nennen wir ihn N.«, wie es in den alten Romanen heißt – fährt ein mit vier Kindern, einer Frau und einem Chauffeur besetztes Auto über den gefrorenen See. Das Eis gibt nach; das Auto versinkt. Drei Kinder und die Mutter ertrinken – der Chauffeur rettet sich und ein Kind.

Bei der kirchlichen Beerdigungsfeier wählte der protestantische Pastor als Unterlage zu seiner Predigt diesen Bibeltext, Psalm 69, 2, 3:

»Gott hilf mir; denn das Wasser gehet mir bis an die Seele. Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen.«

Die frommen Herren wollen so oft wissen, was wir denn eigentlich gegen sie und ihre Religion, wie sie sie ausüben, vorzubringen hätten. Eines unsrer Argumente ist die trostlose Plattheit ihrer religiösen Gefühle.

Mir ist das ja gleich, ich bin dort nicht abonniert, und wers mag, der mags ja wohl mögen. Aber ist es nicht armselig, daß einem Pastor bei so einem schrecklichen Unglücksfall nichts weiter einfällt, als nach der Bibelkonkordanz zu greifen, dort unter ›Wasser‹ nachzusehn und nun etwas ›Bezügliches‹ aufzusagen? Ich höre ordentlich, wie er das Gegenständliche in das umgeredet hat, was er das Symbolische nennt, was aber hier nur das Allegorische gewesen ist. Die armen Wesen sind ins Wasser gefallen und darin ertrunken. »Also, auch, lieben Zuhörer . . . « Heißt das nicht die Religion herabwürdigen? Für einen wahrhaft fromm empfindenden Menschen muß so ein Handwerksstück von Predigt ein Greul und ein Scheul sein.

Und der Grund, aus dem der Kirche täglich mehr und mehr Leute[239] fortlaufen, was nur zu begrüßen ist, liegt eben hierin: daß viele Diener dieser Kirche nur noch viel zu reden, aber wenig zu sagen haben. Wie schlecht wird da gesprochen! Wie oberflächlich sind die scheinbaren Anknüpfungspunkte an das Moderne, darauf sind diese Männer auch noch sehr stolz. Wie billig die Tricks, mit einer kleinen, scheinbar dem Alltag entnommenen Geschichte zu beginnen, um dann . . . emporzusteigen? Ach nein. Es ist so etwas Verblasenes – die Sätze klappern dahin, es rollen die Bibelzitate, und in der ganzen Predigt steht eigentlich nichts drin.

In diesem Fall scheint mir die Herbeizerrung des schönen 69, Psalms eine besondere Ungeschicklichkeit, mehr: eine grobe Taktlosigkeit zu sein.

Auf Betreiben der katholischen Kirche, die manche ihrer Positionen wanken sieht – keine Angst, wir sind in Deutschland! – läßt sich Rom neuerdings mit vielen Paragraphen schützen: eine Frömmigkeit hinter dem Stacheldraht der Gesetze. Das Wort: Die Gottlosen kommen! geht um.

Aber eine so gute Propaganda, wie sie die Kirche gegen die Kirche macht, können wir gar nicht erfinden. Und ich weiß viele, die mit mir denken: Wir sind aus der Kirche ausgetreten, weil wir es nicht länger mitansehn konnten. Wir sind zu fromm.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 14.07.1931, Nr. 28, S. 72.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 239-240.
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