|
[110] Ein schönes, leicht melancholisches Vergnügen ist: alte Literatur des Alltags zu lesen. Gebrauchsliteratur sozusagen, wie sie alle Zeiten produziert haben, früher von Mund zu Mund, dann schriftlich niedergelegt. Romane – die zur Zeit unserer Großeltern schrecklich berühmt waren und deren Verfasser heute kein Mensch mehr kennt: alte Zeitungen; wilde Broschüren mit historischer Bedeutung . . . vergessen . . . vergessen . . . eine sehr nachdenkliche Lektüre.
Bei der ich mich manchmal frage:
Was mögen das für Leute gewesen sein, die das geschrieben haben?
Die Frage ist nicht zu beantworten. Wenn wir sie beantworten, beantworten wir sie falsch – es sei denn, daß vielerlei Dokumente über die Verfasser aufzutreiben sind. Sonst aber . . .
Der Autor kommt falsch auf die Nachwelt. Oder sagen wir einmal: er kommt unvollständig auf die Nachwelt. Das da, was er geschrieben hat, das sind seine besten Stunden oder doch die, die er dafür gehalten hat – er gibt einen Teil seiner selbst, er gibt sich von der Schokoladenseite, so, wie man früher die Leute fotografiert hat. Vom Rest weiß der spätere Leser nichts mehr.
Manchmal wissen wir es.
Wir wissen zum Beispiel, daß die Herren der zweiten schlesischen Dichterschule, deren Liebesleidenschaft gar so zierlich in ihren Versen flackert, ein bißchen lüstern, ein bißchen frech, ein bißchen zuckrig und ein bißchen halbnackt . . . daß diese Männer meist sehr brave Familienväter gewesen sind, die sich niemals erdreistet hätten, derart[110] in die gute Stube zu dichten. Sie besorgten das am Schreibtisch, und was für ein Gesicht die Frau Hofmannswaldau dazu gemacht hat, das wissen wir nicht. Wir kennen nur einen Teil der Herren: den geschriebenen.
Das ›Private‹ ginge uns nichts an? Hm – für die Literaturgeschichte ist es bis zu einem gewissen Grade nicht beachtenswert. Aber man möchte doch gern, neugierig, wie wir nun einmal sind, wissen: wie sind denn nun diese Leute gewesen, deren vergilbte Bücher, Heftchen, Zeitungsblätter da vor uns liegen? Wir wissen es nicht. Eines aber kann man sagen:
Sie waren entweder mehr oder weniger als ihr Werk.
Weniger: dann haben sie sich sorgfältig auf die Zehenspitzen gestellt, wenn sie schrieben; sie haben hinaufgelangt, sie haben sich gereckt, sie haben auf das feinste fortgelassen, was nicht hinpaßte, und sie haben dem staunenden Leser ein Bild geboten, wie der und sie sich es wünschten: jeder Zoll ein kleiner König. Hätten wir den König in Unterhosen gekannt –: es gäbe ein ganz andres Bild. Aber wir kennen ihn nicht – wir können manchmal nur ahnen . . .
Oder sie waren mehr: Dann haben sie es vorgezogen, anderswo zu leben als in der Literatur, und haben nur hier und da ein Büchlein veröffentlicht, einen Zeitungsaufsatz, ein Broschürchen, und das Geschriebene gibt gar nicht den ganzen Mann: den Mann in seiner Blutfülle und in seinem Leben, den ganzen Kerl, der von Kraft überströmte, von Einfällen, von Witz und von Seltsamkeit – unter den Schriftstellern gibt es viele Sprechsteller. Von den Technikern, den Ärzten, den Predigern ganz zu schweigen, die sich ja außerhalb ihres Werks nur schwer aufbewahren können; »Sie müssen ihn eben gekannt haben!« sagen die Freunde, wenn er tot ist. Und wir wissen gar nichts – nur ein schmales Heftchen, oder ein dicker Wälzer, eine Brotarbeit . . . wir wissen gar nichts.
Der Autor kann sich durch das Werk verdecken. Der Autor kann das Werk durch sich verdecken. Nur sehr, sehr selten decken sich beide.
Ist das immer so? Das ist immer so.
Da kann ich ein schönes Wort nicht vergessen, das mir Jakob Wassermann einmal gesagt hat. Er erzählte, es habe ihm ein russischer Emigrant aus Amerika geschrieben, er erbitte in einer für ihn lebenswichtigen Sache seinen Rat . . . er käme nach Europa, er wolle Wassermann sprechen und ihn hören. Welche Verantwortung! »Kann man dem Mann denn in einer solchen Angelegenheit raten?« fragte ich. Wassermann sah mich an. »Nein«, sagte er. »Was ist man denn neben seinem Werk.«