Ein kleiner Volksschullehrer

[317] Wenn sich die Schwäche auf die Stärke stürzt, um von ihr zu profitieren, also auf deutsch: wenn sie Biographien schreiben, dann fängt die Lebensbeschreibung oft so an: »X. war damals ein kleiner Volksschullehrer . . . « Halt.

Warum klein –? Ist ein Volksschullehrer allemal klein –? Es gibt doch unter diesen, wie unter den ›kleinen Angestellten‹, solche und solche; so wenig etwa jeder Volksschullehrer ein großer Mann ist, was ja wohl auch die unerbittlichste Interessenvertretung dieser Männer nicht wird behaupten wollen, so wenig schmeckt uns das Attribut klein. Ein kleiner Angestellter . . . ? Hat Gott den Mann auf diesen Platz geweht? Arbeitet sich vielleicht jeder empor, der es verdiente, oben zu sein? Davon ist doch bei der tiefen Illoyalität dieses Lebenskampfes keine Rede. Polgar hat einmal so formuliert: wenn schon das Leben ein Rennen sein soll, dann macht wenigstens den Start für alle gleich. Na, und ist er das vielleicht –?

Er ist so ungleich wie möglich. Der eine hat eine kleine Rente oder die Unterstützung seiner Familie, um über die entscheidenden Jahre jedes Menschenlebens glatt hinwegzukommen: er kann also in Ruhe etwas für seine Ausbildung tun, ohne sie durch eine Nebenarbeit gefährden zu müssen. Solche Nebenarbeit kann fördern, sie kann aber, je nach dem Beruf, erheblich ablenken. Nichts ist manchmal so wichtig, wie in Ruhe aufnehmen zu können, ohne dabei geben zu müssen. Hat diese Ruhe jeder? Die hat nicht jeder.

Und wenn der Volksschullehrer klein ist: ist der Ministerialrat groß? Ich kenne der Ministerialräte manche, die dumm sind wie das Monokel Fritz Langs, und groß sind sie gar nicht. Sie sind nur routiniert; reißt man sie aus ihrer Routine, so versagen sie kläglich. Zum Beispiel allemal im Ausland, wo man ihren Titel kaum aussprechen kann, und wo sie nur das gelten, was sie wert sind.

Und die Kapitäne der Wirtschaft –? Das ist doch wohl nicht euer Ernst.

Es scheint mir nun aber allerhöchste Zeit, eine Sache nicht mit denen zu verwechseln, die von ihr profitieren. Sehr viel dümmer als diese Wirtschaftskapitäne kann man sich nicht gut anstellen. Seit 1914 Niederlage auf Niederlage, Blamage auf Blamage, falsche Voraussage auf falsche Voraussage – alles dummes Zeug. Und die sollen uns etwa als groß hingestellt werden? Ausverkauf! Ausverkauf!

Nein, es wäre hübscher, wenn sich die Biographiker und ähnliche Leute dieses Ausdrucks vom kleinen Volksschullehrer enthalten wollten – es ist ein schlechtes Klischeewort. Denn es gibt törichte und innerlich verwachsene Volksschullehrer, und es gibt große Pädagogen; es gibt weitschauende Verwaltungsbeamte, und es gibt hochbesoldete[317] Esel. Denn man kommt ja nicht immer von unten her zu den großen Stellungen – man kann auch hineingesetzt werden, man kann hineinheiraten, man kann erben. Und diese guten Partien und diese Erben wollen uns nachher erzählen, sie seien bedeutend, weil alles vor ihnen, die Stellen zu vergeben haben, katzbuckelt?

Sagen wir nicht mehr: er war zu Beginn seiner Laufbahn ein – kleiner Volksschullehrer. Sagen wir: Volksschullehrer.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 01.12.1931, Nr. 48, S. 831.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 317-318.
Lizenz:
Kategorien: