Ich gehe mit einer langen Frau

[236] Erika ist ein bißchen lang geraten – sie weiß es und sie ist sehr unglücklich darüber. Es sind genau acht Zentimeter zu viel.

Wie habe ich ihr schon gut zugeredet! Um sie zu trösten, habe ich ihr die Geschichte von der langen Dame erzählt, die im Parkett sitzt, und die Leute hinter ihr rufen: »Setzen! Setzen!« – Empört steht sie auf, um die Rufer zur Ruhe zu verweisen, da schreit einer: »Jetzt steigt det Aas noch uff de Banke!« – Tröstet sie nicht.

Dann habe ich ihr erzählt, wie eine andere lange Dame an einer Gartenhecke vorbeiging und den Gärtner im Garten fragte, wo es denn nach Adlershorst gehe. »Da reiten Sie nur immer geradeaus . . . « sagte der Gärtner. Tröstet sie auch nicht.

Aber mit Erika spazierenzugehen, das ist ein wirklicher Genuß. Nicht nur, weil sie eine so reizende Dame ist . . . nein: ich lese in den Augen aller Vorübergehenden, und das ist ein großes Vergnügen.

Meinerseits bin ich etwas klein und dick. Gott sieht aufs Herz. Und nun ist Erika sehr schlank und groß. Und wenn wir dann beide durch die Straßen gehen, dann freuen sich die Leute an dem stattlichen Paar, und ich lese also in den Augen.

Die Männer sehen meist an uns vorbei; sie haben keine Zeit. Wenn sie aufsehen, freuen sie sich ein bißchen, aber doch nur flüchtig – ein Mann ist so ein Dussel, er weiß gar nicht, was eine schöne Schadenfreude ist. Und wenn die Männer allein gehen, dann denken sie, und damit haben sie vollauf zu tun. (Und dann muß man sehen, was dabei herauskommt!)

Aber die Frauen . . . !

Es geht so blitzschnell, und ich habe meine große Freude daran.

In den Augen steht:

»Hurra! Eine Frau, die mir unterlegen ist! Sie ist zu lang! Tobby! Mama! Margot! Hast du die gesehen? Guck mal die! Das ist aber eine lange Stange!« Das ist häßlich – Erika ist gar keine Stange, das weiß ich nun besser. Aber sie ist acht Zentimeter zu lang, und das ist ein Nachteil, der sofort in die schönen Augen der Spaziergängerinnen fällt, und ich lese:

»Sie ist zu lang. Hihi. Die möcht ich mal tanzen sehen. Die möcht ich mal laufen sehen! Steigt der kleine Dicke auf eine Fußbank, wenn er sie küßt? Lisa, guck mal!«

Lisa guckt und findet das nun auch. Es ist aber auch zu schön . . . ! So eine große Frau –!

Übrigens gibt es da Nuancen, und es kommt alles auf die Kinderstube an. Hat die Kinderstube nach Norden gelegen, dann bricht die Schadenfreude unverhohlen aus: in den Augen glimmt das Flämmchen der Nächstenliebe, ein spöttisches Geblinkere hebt an. Zwinkern[236] und Blinkern, der Ellenbogen stupst den Nachbarn in die trauliche Seite, und zwei sind sich einig in einem unaussprechlichen Glück: dem Nebenmenschen eins auswischen zu können.

Bei feineren Leuten flitzt nur ein schneller Blick hinüber, fast unmerklich . . . , aber Erika ist gerichtet. So tragen wir viel zur Erheiterung unserer Nächsten bei.

Es ist unerfindlich, wie boshaft Menschen sein können. Erika kann doch nichts dafür, daß sie so lang ist. Mir ist sie grade richtig –, mir ist sie nicht zu lang. Und es ist doch schließlich mehr als gemein, so über Eigenschaften herzuziehen, für die keiner etwas kann.

Da gehen wir, und ich fange alle diese Blicke auf.

Entgegen kommt uns ein Paar. Er von normaler Statur, und sie: so zierlich, so puppenhaft, so klein, so unendlich lütt . . .

Ich stupse Erika in die Seite und lasse blitzschnell einen Blick auf Frau Liliput hinüberflitzen.

»Erika«, sagte ich, »hast du diese kleine Person gesehen –? Lächerlich. Ist ja lächerlich. Was macht der, wenn er sie küßt –?«


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 30.06.1931, Nr. 302.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 236-237.
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