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[83] Das war ein Wurf! sagte Hans – da warf er seine Frau zum Dachfenster hinaus.
1
Einer von den Tagen, wie sie sonst nur im Spätsommer vorkommen: bunt, gesättigt und windstill. Wir lagen am Seeufer.
Ein paar Meter vor uns schaukelte ein Boot, unser Badeboot – das Wasser gluckste leise gegen das Holz, auf und ab, auf und ab . . . Wenn man die Hand ins Wasser hielt, gab das ein winziges Kältegefühl, dann zog man sie wieder heraus, und dann trockneten die Tropfen in der Luft. Ich rauchte einen Grashalm, die Prinzessin hielt die Augen geschlossen.
»Heute ist vorgestern«, sagte sie. Das war so ihre Art der Zeitrechnung, da wir übermorgen fortfahren wollten, so war heute vorgestern.
»Wo mag sie jetzt sein?« fragte ich. Die Prinzessin sah auf die Uhr: »Jetzt ist sie zwischen Malmö und Trälleborg«, sagte sie; »in einer Stunde steigt sie auf die Fähre.« Dann schwiegen wir wieder. Billie – dachte ich – Billie . . .
Sie war abgefahren: leise, heiter, froh – und es war nichts gewesen, es war nichts gewesen. Ich war glücklich; es hatte keinen Schatten gegeben. Gottseidank nein. Ich sah zur Prinzessin hinüber. Sie mußte den Blick gespürt haben; sie öffnete die Augen.
»Wo bleibt die Frau Collin? Watt seggst to det Ei? Hett de Katt leggt!«
Die Frau Collin hatte nicht geschrieben – und wir wollten doch fort. Wir mußten fort; unser Urlaub war abgelaufen. Noch einmal telefonieren? Schließlich und endlich . . . »Diese dämliche Person«,[83] schimpfte ich vor mich hin. »Man muß doch das Gör da herauskriegen! Himmelherrgottdonner . . . « – »Daddy, du repräsentierst ein Volk!« sagte die Prinzessin würdevoll, als ob uns die schwedischen Bäume hören könnten. »Du sollst des Anstands gedenk sein!« Ich sagte ein zweisilbiges Wort. Woraufhin mich die Prinzessin mit etwas Mälarsee anspritzte. Und da wollte ich sie in den See werfen. Und da lag ich drin.
Ich pustete sie mit Wasser voll wie ein Elefant, sie warf mir Hölzchen an den Kopf . . . dann legte sich das alles. Ich kroch heran, und wieder saßen wir friedlich zusammen.
»Was machen wir aber wirklich?« fragte ich triefend. »Warten? Wir können nun nicht mehr warten! Du mußt am Dienstag zu Hause sein, und auf mich lauern sie auch. Mal muß der Mensch doch wieder arbeiten! Hier vertue ich meine kostbare Zeit mit dir . . . « Sie hob drohend den Arm. Ich rückte ein Stückchen weg. »Ich meinte nur. Aber wollen wir telefonieren? Ja?«
»Nun wollen wir erstmal zu Ende baden«, sagte die Prinzessin. »Wenn wir nachher nach Gripsholm kommen, werde ich dir das alles sagen. Holla – hopp!« Und wir schwammen.
»Paß auf –« pustete ich dazwischen, »sie wird es nicht tun, die Frau Collin. Wahrscheinlich hat sie sich das überlegt – ich hatte so den Eindruck, daß sie den kleinen Gegenstand gar nicht bei sich haben will – vielleicht führt sie ein uhrenhaftes Leben . . . « Die Prinzessin kniff mich ins Bein. »Oder sie traut uns nicht und denkt, wir werden das Kind entführen. Aber der Frau Adriani hat sie getraut. Na, du wirst es sehen! Diese Weiber! Aber das sage ich dir, Alte: wenn sie heute nicht schreibt! Nie wieder in meinem Leben kümmere ich mich um fremde Kinder. Um fremde nicht! um deine auch nicht! um meine auch nicht! Himmelkreuzund . . . « – »Daddy«, sagte die Prinzessin. »Solang as ich dir kenn, hältst du ümme weise Redens über das, wasse tun wirst, und mehrstenteils kommt nachher allens ganz anners. Aber dascha so bei die Männers. Bischa mallrig!« – »Ich werde . . . « – »Ja, du wirst. Wenn sie dir das Futurum wegnehmen, dann bleibt da aber nicht viel.« – »Person!« – »Selber!« Huburr – der ganze See fing an zu schaukeln, weil wir eine wilde Seeschlacht veranstalteten. Dann schwammen wir ans Ufer.
Auf dem Wege zum Schloß:
»Mein Alter hat gar nicht geschrieben . . . sie werden ihn doch nicht in Abbazia an ein öffentliches Haus verkauft haben?« – »Na, ob da Bedarf für ist . . . « – »Daddy, wo ist eigentlich der Dackel?« – »Dein Kofferdackel?« – »Ja.« – »Der steht doch . . . der steht unter meinem Bett. Nachts bellt er.« Wir gingen ins Haus.
Die Prinzessin pfiff wie ein Lockvogel. Was gabs?
Der Brief war da – ein dicker Brief. Sie riß ihn auf, und ich nahm[84] ihn ihr fort, dann flatterten die Bogen auf den Boden, wir sammelten sie auf und brachen in ein fröhliches Geschrei aus. Da war alles, alles, was wir brauchten.
»Das ist fein. Na – aber nun! Wie nun?«
»Das beste is«, sagte die Prinzessin, »wir gehn gliks mal eins hin un holen uns dem Kinde her von diese alte Giftnudel. Auf was wolln wi nu noch warten?«
»Jetzt essen wir erst mal Mittag, und dann gleich nach Tisch . . . Krach ist gut für die Verdauung.«
Wir saßen grade bei den Preiselbeeren, diesem mild brennenden Kompott, da hörten wir draußen vor der Tür ein Getöse, das Ungewöhnliches anzeigte. Wir ließen die Löffel sinken und horchten. Nun –?
Die Schloßfrau kam herein; sie sah aus wie ein Extrablatt.
»Da ist ein Kind draußen«, sagte sie und sah uns ganz leicht mißtrauisch an, »ein kleines Mädchen – sie weiß nicht, was Sie heißen, aber sie sagt, sie will zu den Mann und der Frau, die ihr eine Puppe gegeben hat, und sie weinten die ganze Zeit und sie bin so rot im Gesicht . . . Kennen Sie das Kind?« Wir standen gleich auf. »O ja – das Kind kennen wir schon.« Hinaus.
Da stand der kleine Gegenstand.
Sie sah recht zerrupft aus, verweint, die Haare hingen ihr ins Gesicht, vielleicht war sie schnell gelaufen. Das Kind war nicht recht bei sich. Als es Lydia sah, lief es rasch auf sie zu und versteckte sein Gesicht an ihrem Kleid. »Was hast du denn? Was ist denn?« Die Prinzessin beugte sich nieder und verwandelte sich aus dem Sportmädchen von heute morgen in eine Mama; nein, sie war beides. Die Schloßfrau stand dabei, ein Schwamm der Neugierde – sie saugte es alles auf. Also?
Das rote Weib hatte das Kind geprügelt und geknufft und so laut geschrien; das Kind war fortgelaufen. Es war wohl nicht mehr auszuhalten gewesen. Und nun zitterte das Kind und zitterte und sah nach der Tür. Kam sie –? Frau Adriani würde sie holen. Frau Adriani würde sie holen. Es war nur bruchstückweise aus ihr herauszubekommen, was es gegeben hatte. Schließlich wußten wir alles.
Wir standen herum. »Ich gebe sie nicht mehr heraus«, sagte ich. »Nein . . . natürlich nicht«, sagte die Prinzessin. Die Schloßfrau: »Senden Sie nicht das Kind zurück?« Der kleine Gegenstand begann laut zu weinen: »Ich will nicht zurück! Ich will zu meiner Mutti!« – »Noch einen schwarzen Kaffee«, sagte ich zur Prinzessin, »und dann gehts los.« Wir nahmen das Kind mit hinein und bauten vor ihm Keks auf. Es nahm keine Keks. Wir tranken still; wenn es wild zugeht, soll man immer erst einmal bis hundert zählen oder einen Kaffee trinken.
»So, Lydia – jetzt wisch mal dem Kind das Geheul ab und beruhige[85] es ein bißchen, und ich werde mit dem süßen Schatz telefonieren! Würden Sie mich bitte mit dem Kinderheim verbinden?« Die Schloßfrau stellte viele Fragen, ich beantwortete sie sehr kursorisch, sie sagte etwas Schwedisches in das Telefon; und dann saß ich da und wartete.
Jemand meldete sich, auf schwedisch. Ich sprach aufs Geratewohl deutsch, »Kann ich Frau Adriani sprechen?« Lange Pause. Dann eine harte, gelbe Stimme. »Hier Frau Direktor Adriani!« Ich meldete mich. Und da brach es drüben los.
»Das Kind ist wohl bei Ihnen? Ja?« – »Ja.« – »Sie geben es sofort . . . Sie schicken mir sofort das Kind! Ich werde es abholen lassen – nein: Sie schicken es mir sofort . . . Sie bringen mir auf der Stelle das Kind zurück! Ich zeige Sie an! Wegen Kindesentführung! Das haben Sie dem Kind in den Kopf gesetzt! Sie! Was? Wenn das Kind nicht in einer halben Stunde . . . nicht in einer halben Stunde bei mir . . . Haben Sie mich verstanden?« In mir schnappte das Regulativ ein, das die Feder zurückhält. Ich hatte mich fest an der Leine. »Wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen!« Ein Knack – es wurde abgehängt.
»Lydia«, sagte ich. »Was nun? Ich werde mit der Alten schon reden – diesmal ist sie dran. Aber die Sachen von dem Kind . . . Es hilft nichts: wir müssen das Kind mitnehmen, sonst bekommen wir nicht alles!« – »Hm.« – »Und wenn wir es hier in Gripsholm lassen, dann ist die Alte imstande und nimmt es von hier fort, und das ganze Theater fängt von vorn an. Erklär das mal dem kleinen Gegenstand!« Das dauerte zehn lange Minuten; ich hörte die Kleine nebenan weinen und immer wieder weinen, dann wurde sie ruhiger, und als nun auch die Schloßfrau auf sie einsprach, wurde sie still. »Nehmen Sie mich auch gewiß . . . nehmen Sie mich auch ganz gewiß wieder mit?« fragte sie immer wieder. Wir redeten ihr gut zu. »Sie weinete, Er tröstete den Trost aus voller Brust –« sagte die Prinzessin leise. Und dann gingen wir.
Wir sprachen, damit das Kind uns nicht verstände, französisch. »Du springst ihr doch hoffentlich gleich mit dem Brief und mit dem Scheck ins Gesicht?« – »Lydia«, sagte ich. »Lassen wir sie ein kleines Weilchen toben. Ein Hälmchen . . . Ich möchte noch mal sehn, wie das ist. Nur ein Weilchen!« Die Prinzessin fiel murrend aus dem Französischen in ihr geliebtes Plattdeutsch. »Ick schall mi von Schap beeten laten, wenn ick 'n Hund in de Tasch hebb?« Und nun wandten wir uns wieder zu der Kleinen, die unruhiger wurde mit jedem Schritt, der uns dem Kinderheim näherbrachte. »Darf ich auch wieder heraus? Aber sie läßt mich ja nicht – sie läßt mich ja nicht!« – »Wir müssen doch deine Sachen holen, und du brauchst keine Angst zu haben . . . « Als wir das Kinderheim sahen, sagten wir gar nichts mehr. Ich legte der Kleinen leise meinen Arm um die Schultern. »Komm – das geht gut aus!« Sie ließ[86] sich ein bißchen ziehen, aber sie ging still mit. Wir brauchten nicht zu klopfen – die Tür war offen.
Frau Adriani stand unten in der Halle, sie war über eine Truhe gebeugt und wandte uns den Rücken zu. Als sie unsre Schritte hörte, drehte sie sich blitzschnell um. »Ah – da sind Sie ja! Na, das ist Ihr Glück! Sind Sie meinem Mädchen nicht begegnet? Nein? Na, es ist schon jemand unterwegs, falls Sie nicht gekommen wären . . . Wo bist du hingelaufen, du Teufelsbraten!« schrie sie das Kind an: »Wir sprechen uns nachher! Nachher sprechen wir uns! Los jetzt!« Das Kind verkroch sich hinter die Prinzessin. »Einen Augenblick«, sagte ich. »So schnell geht das nicht. Warum ist das Kind von Ihnen fortgelaufen?« – »Das geht Sie gar nichts an!« schrie Frau Adriani. »Gar nichts geht Sie das an! – Komm her, mein Kind!« Sie ging auf das Kind zu, das ängstlich zusammenzuckte. Sie legte der Kleinen die Hand auf den Kopf. »Was sind denn das für Dummheiten! Wozu läufst du denn vor mir fort? Hast du Angst vor mir? Du mußt vor mir keine Angst haben! Ich will doch dein Bestes! Da läufst du nun zu fremden Leuten . . . stehen dir denn diese fremden Menschen näher als ich? Ich habe dir doch erzählt: die sind nicht mal richtig verheiratet . . . « Sie sprach so falscheindringlich in das Kind hinein, aber ihre Stimme wußte sich gehört; sie sprach gewissermaßen im Profil. »Läufst hier fort . . . !« Das Kind schauerte zusammen.
»Kann ich Sie wohl mal sprechen?« sagte ich sanft. »Was . . . wir haben uns nichts zu sagen!« – »Vielleicht doch.« Wir gingen alle in den Eß-Saal.
»Also das Kind ist zu Ihnen gelaufen! Das ist ja reizend! Ihr Glück, daß Sie es auf meine Weisung sofort wiedergebracht haben! Sie wird nicht mehr weglaufen – das kann ich Ihnen versprechen. So ein Geschöpf! Na warte . . . « – »Das Kind muß doch einen Grund gehabt haben, wegzulaufen!« sagte ich. »Nein. Das hat es gar nicht gehabt. Es hat keinen Grund gehabt.« – »Hm. Und was werden Sie nun mit ihm machen?« – »Ich werde es bestrafen«, sagte Frau Adriani satt und hungrig zugleich. Sie reckte sich in ihrem Stuhl. »Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Wie werden Sie es bestrafen?« – »Ich brauche Ihnen darauf keine Antwort zu geben – ich muß das nicht. Aber ich sage es Ihnen, denn es ist im Sinne von Frau Collin, im Sinne von Frau Collin, daß das Kind streng gehalten wird. Sie wird also Zimmerarrest bekommen, die kleinen Hausstrafen, Arbeiten, es darf nicht mit den andern spazierengehn – so wird das hier gemacht.« – »Und wenn wir Sie bitten, dem Kind die Strafe zu erlassen . . . täten Sie das?« – »Nein. Dazu könnte ich mich nicht entschließen. Da könnten Sie bitten . . . Das wollten Sie mir sagen?« fügte sie höhnisch hinzu. »Nun . . . behandeln Sie denn alle Kinder so? Man muß manchmal streng sein, gewiß, aber die Kinder so zur Verzweiflung treiben . . . « – »Wer[87] treibt hier die Kinder zur Verzweiflung! Erziehen Sie Ihre Kinder, verstehen Sie! Wenn Sie mit der Dame da welche haben! Dieses hier erziehe ich!« – »Ga hen und fleut die Hühner und verget den Hahn nich!« murmelte die Prinzessin. »Was sagten Sie?« fragte Frau Adriani. »Nichts.« – »Ich habe meine Grundsätze. Solange ich die Macht über das Kind habe . . . «
Ich sah ihr fest in die Augen . . . einen Augenblick lang noch ließ ich sie zappeln in ihrer wahnwitzigen und ungeduldigen Wut. Immer liefen ihre flinken Augen von uns zu dem Kind und wieder zurück, sie wartete auf das Kind. Ich überlegte, wieviel Menschen auf der Welt in der Gewalt solcher da sein mochten, und wie das nun wäre, wenn wir ihr das Kind wirklich überlassen müßten, und was die andern Kinder hier auszustehen hätten . . . »Also – jetzt werde ich das Nötige in die Wege leiten . . . « Frau Adriani stand auf. Da packte ich zu.
»Das Kind wird nicht bei Ihnen bleiben«, sagte ich.
»Waaas –?« brüllte sie und stemmte die Arme in die Seite. »Wir nehmen das Kind zu seiner Mutter zurück. Hier ist ein Brief von Frau Collin, hier ist ein Scheck . . . wir werden gleich bezahlen . . . «
Über das Gesicht der Frau lief wie eine Welle überkochende Milch ein Schreck; man sah, wie es in ihr dachte; man hörte sie denken, sie glaubte nicht. »Das ist nicht wahr!« – »Doch, das ist wahr. Nun kommen Sie nur – setzen Sie sich wieder hin . . . ich werde Ihnen das alles hübsch der Reihe nach übergeben.« – »Du gehst nach oben!« herrschte sie das Kind an. »Das Kind bleibt hier«, sagte ich. »Das ist der Brief. Die Unterschrift ist beglaubigt.« Frau Adriani riß ihn mir aus der Hand.
Dann warf sie ihn der Prinzessin vor die Füße. »Das ist der Dank!« schrie sie. »Das ist der Dank! Dafür habe ich mich um diesen verwahrlosten Balg gekümmert! Dafür habe ich für sie gesorgt! Aber das . . . das haben Sie der Frau Collin eingeredet! Sie haben sie aufgehetzt! Sie haben mich verleumdet! Das werde ich . . . Raus! Sie . . . !« – »Wir nehmen also das Kind gleich mit. Sie werden augenblicklich die Sachen packen lassen und mir die Rechnung übergeben. Dafür bekommen Sie gegen Quittung diesen Scheck. Er ist auf Stockholm ausgestellt.« Geld! Geld war im Spiel! Die Frau blendete über und wechselte sofort die Tonlage. Sie sprach viel ruhiger, kälter – sehr fest.
»Die Rechnung kann ich im Augenblick nicht machen. Das Kind hat mir vieles zerbrochen, da sind Schadenersatzansprüche. Selbstverständlich muß bis zum Quartalsende gezahlt werden – das ist so ausgemacht. Selbstverständlich. Und dann muß ich erst zusammenstellen lassen, was hier alles im Haus durch die Schuld dieses Mädchens entzweigegangen ist. Das dauert mindestens eine Woche.« – »Sie schreiben mir jetzt eine Quittung über den Scheck aus; er deckt[88] die Kosten bis zum Vierteljahrsschluß, dann bleiben noch zweiundfünfzig Kronen übrig . . . über den Rest werden Sie sich mit Frau Collin einigen. Das Kind kommt mit uns mit.« Das Kind hatte aufgehört zu weinen, es sah fortwährend von einem zum andern und ließ die Prinzessin keinen Augenblick los, keinen Augenblick.
Frau Adriani sah auf den Scheck, den ich in der Hand hielt. »Mit Geld allein ist die Sache nicht abgetan!« sagte sie. »Immerhin . . . Warten Sie.« Sie ging. Die Prinzessin nickte befriedigt. Die Frau kam wieder.
»Sie hat einen Schrank ruiniert . . . sie hat ein Fenster kaputt gemacht; das Fenster war von innen abgeriegelt, sie muß da etwas hinausgeworfen haben . . . das macht . . . ich habe auch noch eine Wäscherechnung . . . « – »Nun ist es genug«, sagte ich. »Sie bekommen nun gar nichts, und dann nehmen wir das Kind mit, auch ohne seine Sachen – oder aber Sie schreiben mir eine Quittung über den Scheck aus, und dann liefern Sie uns alle Sachen aus, die dem Kind gehören«, – Frau Adriani machte eine Bewegung – »alle Sachen, und dann bekommen Sie Ihr Geld. Nun?«
Sie ringelte sich; man fühlte, wie es in ihr gärte und wallte . . . aber da war der Scheck! da war der Scheck! Psychologie ist manchmal sehr einfach. Nein, so einfach war sie doch nicht. Wieviel Stimmlagen hatte diese Frau! Nun legte sie die letzte Platte auf.
Sie begann zu weinen. Die Prinzessin starrte sie an, als hätte sie ein exotisches Fabeltier vor sich.
Frau Adriani weinte. Es klang, wie wenn jemand auf einer kleinen Kindertrompete blies, es war mehr eine Art Quäken, was da herauskam, ganz leise, bei völlig trocknen Augen – so machen die kleinen Gummischweinchen, wenn sie die Luft von sich geben und verrunzelnd zusammenfallen. Großaufnahme: »Ich bin eine Frau, die sich ihr Leben erarbeitet hat«, sang die Kindertrompete. »Ich habe viele Reisen gemacht und mir Bildung erworben. Ich habe einen kranken Mann; ich habe niemanden, der mir hilft. Ich stehe diesem Hause seit acht Jahren vor – ich bin den Kindern wie eine Mutter, wie eine Mutter . . . das Kind ist mir ans Herz gewachsen . . . ich habe für dieses Kind . . . Scheißbande!« brüllte sie plötzlich.
Es war wie eine Erlösung. Die Vorstellung des Stücks ›Das gerührte Mutterherz‹ war so dumm gewesen, es waren die gangbaren Mittel einer Provinz-Hysterika . . . daß wir wie von einem Albdruck befreit waren, als sie mit dem Kraftwort abschloß und in die Realität zurückkehrte, in ihre Wirklichkeit. »So«, sagte ich. »Nun gehn wir und packen ein!« Ihr letzter Widerstand flackerte auf. »Ich packe nicht. Gehn Sie selber nach oben und suchen Sie sich ihre Lumpen zusammen. Liegt wahrscheinlich alles durcheinander. Ich suche nicht.« Sie knallte auf einen Stuhl. Und sprang gleich wieder auf. »Natürlich lasse ich[89] Sie nicht allein hinaufgehn! Senta! Anna!« Es erschienen zwei Mädchen. Sie sagte zu ihnen etwas auf schwedisch, das wir nicht verstanden. Wir gingen hinauf.
Aus allen Türen sahen Mädchenköpfe, verängstigte, neugierige, aufgeregte Gesichter. Keines sprach; ein Mädchen knickste verlegen, dann andre. Wir standen oben im Schlafzimmer Adas; die vier kleinen Mädchen, die darin waren, drückten sich scheu in einer Ecke zusammen. Wir öffneten den Schrank, und die Prinzessin fragte nach einem Koffer, Ja, das Kind hatte einen mitgebracht, aber der stände auf dem Boden. »Wollen Sie ihn bitte . . . « Ein Mädchen ging. Die Prinzessin räumte den Schrank aus. »Das? Das auch?« Mit einem Schwung öffnete sich die Tür, Frau Adriani preschte ins Zimmer. »Ich will genau sehn, was sie mitnimmt! Am Ende eignen Sie sich noch fremde Sachen an!« Eine schlechte Verliererin war sie – wer bleibt anständig, wenn er seine Partie verloren hat? »Sie können alles genau sehn, und im übrigen – Holla!« Sie war auf das Kind zugegangen, das sich duckte. Ich trat mit einem raschen Satz dazwischen. Wir sahen uns einen Augenblick an, die Frau Adriani und ich; in diesem Blick war so viel körperliche Intimität, daß mir graute. Dieser Kampf war der Gegenpol der Liebe – wie jeder Kampf. Und in diesem Blick der Augen öffnete sich mir eine tiefe Schlucht: diese Frau war niemals befriedigt worden, niemals. Durch mein Gehirn flitzte jenes zynische Rezept:
Rp.
Penis normalis
dosim
repetatur!
Aber das allein konnte es nicht sein. Hier tobte der Urdrang der Menschheit: der nach Macht, Macht, Macht. Und nichts trifft solch ein Wesen mehr als ein unerwarteter Aufstand. Dann stürzt eine Welt ein. Spartakus . . . So viele Kinder litten hier. Ich hätte geschlagen. Sie wich zurück.
Das Mädchen kam mit dem Koffer; wir packten, schweigend. Einmal riß die Frau ein Hemdchen an sich und warf es wieder hin. Das Kind hielt die Hand der Prinzessin. Die Mädchen in ihrer Ecke atmeten kaum. Frau Adriani sah zu ihnen hinüber und ruckte mit dem Kopf, da gingen sie schlurfend zur Tür hinaus. Der Koffer wurde geschlossen. Wir trugen ihn hinunter. Ein Mädchen wollte uns helfen – Frau Adriani verbot es mit einer Handbewegung. Der Koffer war nicht schwer. Das Kind ging eilig mit; es weinte nicht mehr. Ich hörte es einmal tief aufatmen.
»Die Quittung?« Frau Adriani ging auf ihren Tisch zu, schrieb etwas auf ein Blatt und reichte es mir, wie mit der Feuerzange. Um[90] ein Haar hätte sie mir leid getan, aber ich wußte, wie gefährlich dieses Mitleid war und wie verschwendet. Es hätte ihr nicht einmal gut getan, denn von diesem Seelenhonorar kauft sie sich neue Kulissen, und alles fängt wieder von vorn an. Ich gab ihr den Scheck. Ich sah auf ihr Gesicht. Der Vorhang war heruntergelassen – jetzt wurde nicht mehr gespielt. Das Stück war aus.
Langsam gingen wir aus dem Hause, in dem das Kind so viel gelitten hatte.
Keiner von uns sah mehr zurück. Die Haustür wurde geschlossen.
2
Der letzte Urlaubstag . . .
Ich bin schon für die Reise angezogen, zwischen mir und dem Mälarsee ist eine leise Fremdheit, wir sagen wieder Sie zueinander.
Die langen Stunden, in denen nichts geschah; nur der Wind fächelte über meinen Körper – die Sonne beschien mich . . . Die langen Stunden, in denen der verschleierte Blick ins Wasser sah, die Blätter zischelten und der See plitschte ans Ufer; leere Stunden, in denen sich Energie, Verstand, Kraft und Gesundheit aus dem Reservoir des Nichts, aus jenem geheimnisvollen Lager ergänzten, das eines Tages leer sein wird. »Ja«, wird dann der Lagermeister sagen, »nun haben wir gar nichts mehr . . . « Und dann werde ich mich wohl hinlegen müssen.
Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.
Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen. »Schön habt ihr es hier«, sagte einst Karl der Fünfte zu einem Prior, dessen Kloster er besuchte. »Transeuntibus!« erwiderte der Prior. »Schön? Ja, für die Vorübergehenden.«
Letzter Tag. So erfrischend ist das Bad in allen den Wochen nicht gewesen. So lau hat der Wind nie geweht. So hell hat die Sonne nie geschienen. Nicht wie an diesem letzten Tag. Letzter Tag des Urlaubs – letzter Tag in der Sommerfrische! Letzter Schluck vom roten Wein, letzter Tag der Liebe! Noch einen Tag, noch einen Schluck, noch eine Stunde! Noch eine halbe . . . ! Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören.
»Heute ist heute«, sagte die Prinzessin – denn nun stand alles zur Abfahrt bereit: Koffer, Handtaschen, der Dackel, der kleine Gegenstand[91] und wir. »Du siehst aus!« sagte Lydia, während wir gingen, um uns von der Schloßfrau zu verabschieden, »du hast dir je woll mitn Reibeisen rasiert! Keinen Momang kann man den Jung allein lassen!« Ich rieb verschämt mein Kinn, zog den Spiegel und steckte ihn schnell wieder weg.
Großes Palaver mit der Schloßfrau. »Tack . . . danke . . . « und: »Herzlichen Dank! . . . Tack so mycket . . . « und »Alles Gute!« – es war ein bewegtes und freundliches Hin und Her. Und dann nahmen wir Ada an die Hand, jeder griff nach einer Tasche, da stand der kleine Motorwagen . . . Ab.
»Urlaub jok«, sagte ich. Jok ist türkisch und heißt: weg. »Du merkst auch alles«, sagte die Prinzessin und kämmte das Kind. »Lydia, ich hätte nie geglaubt, daß du so eine nette Kindermama abgeben kannst! Sieh mal an – was alles in dir steckt!« – »Ich bin Sie nämlich eine Zwiebel!« sagte die Prinzessin und enthüllte damit, vielleicht ohne es zu wissen, das Wesen aller ihrer Geschlechtsgenossinnen.
Und dann fing das Kind langsam, ganz langsam und stockend, an, zu erzählen – wir drängten es nicht, erst wollte es überhaupt nicht sprechen, dann aber sprach es sich frei, man merkte, es wollte erzählen, es wollte alles sagen, und es sagte alles:
Den Krach mit Lisa Wedigen und das Blatt vom Kalender; die dauernden Strafen und die Glockenblumen unter dem Kopfkissen und sein Spitzname ›Das Kind‹; der kleine Will und Mutti und was der Teufelsbraten sich alles ausgedacht hatte, um die Mädchen zu tyrannisieren, und Hanne und Gertie und das Essen im Schrank und alles.
Es ging ein bißchen durcheinander, aber man verstand doch, worauf es ankam. Und ich nannte den kleinen Gegenstand nunmehr Ada Durcheinander, und die Prinzessin bemutterte und bevaterte das Kind zu gleicher Zeit, und ich schlug vor, sie solle dem Kind die Brust geben, und dann brach ein wilder Streit darüber aus, welche: die linke oder die rechte. Und so kamen wir nach Stockholm.
Und fuhren zurück nach Deutschland.
Berlin streckte die Riesenarme und langte über die See . . . »Wir müssen der Frau Kremser telegrafieren«, sagte die Prinzessin, »sicher ist sicher. Junge, haben wir uns gut erholt! Was möchtest du denn?« Das Kind hatte ein paarmal vor sich hingedruckst, hatte angesetzt und wieder abgesetzt. »Na?« – Nein, aufs Töpfchen mußte sie nicht. Sie wollte etwas fragen. Und tat es.
»Sind Sie Landstreicher?« Wir sahen uns entgeistert an, »Die Frau Adriani hat gesagt . . . « Es stellte sich heraus, daß die Frau Adriani uns dem Kind als passionierte, ja als professionelle Landstreicher hingestellt hatte – »diese Landstreicher da draußen, die nicht mal verheiratet sind!« – und das Kind, das jetzt völlig aufgetaut war, wollte nun alles wissen; ob wir Landstreicher wären, und was wir denn da[92] anstrichen . . . und ob wir schon mal verheiratet gewesen wären und warum nun nicht mehr, und dann mußte es aufs Töpfchen, und dann brachten wir es zu Bett. Ich ertappte mich dabei, ein wenig eifersüchtig auf das Kind gewesen zu sein. Wer war hier Kind? Ich war hier Kind. Nun aber schlief es, und Lydia gehörte mir wieder allein.
»Bist du verheiratet?« fragte die Prinzessin. »Na, das hat noch gefehlt!« – »Alte«, sagte ich. »Nein, wir Landstreicher, wir sind ja nicht verheiratet. Und wenn wir es wären . . . Fünf Wochen, das ginge gut, wie? Ohne ein Wölkchen. Kein Krach, keine Proppleme, keine Geschichten. Fünf Wochen sind nicht fünf Jahre. Wo sind unsre Kümmernisse?« – »Wir haben sie in der Gepäckaufbewahrungsstelle abgegeben . . . das kann man machen«, sagte die Prinzessin. »Für fünf Wochen«, sagte ich. »Für fünf Wochen geht manches gut, da geht alles gut.« Ja . . . vertraut, aber nicht gelangweilt; neu und doch nicht zu neu – frisch und doch nicht ungewohnt: scheinbar unverändert lief das Leben dahin . . . Die Hitze der ersten Tage war vorbei, und die Lauheit der langen Jahre war noch nicht da. Haben wir Angst vor dem Gefühl? Manchmal, vor seiner Form. Kurzes Glück kann jeder. Und kurzes Glück: es ist wohl kein andres denkbar, hienieden.
Wir rollten in Trälleborg ein. Es war spät abends; die weißen Bogenlampen schaukelten im Winde, und wir sahen zu, wie der Wagen auf die Fähre geschoben wurde. Das Kind schlief schon.
Ein großer Passagierdampfer rauschte durch das Wasser in den Hafen, Alle Lichter funkelten: vorn die Schiffslaternen, oben an den Masten kleine Pünktchen, alle Kammern, alle Kajüten waren hell erleuchtet. Er fuhr dahin. Musik wehte herüber.
Whatever you do –
my heart will still belong to you –
Eine Welle Sehnsucht schlug in unsre Herzen. Fremdes erleuchtetes Glück – da fuhr es hin. Und wir wußten: säßen wir auf jenem Dampfer und sähen den erleuchteten Zug auf der Fähre, wir dächten wiederum –: da fährt es hin, das Glück. Bunt und glitzernd fuhr das große Schiff an uns vorüber, mit den Lichtpünktchen an seinen Masten. Die schwitzenden Stewards sahen wir nicht, nicht die Reeder in ihren Büros, nicht den zänkischen Kapitän und den magenkranken Zahlmeister . . . natürlich wußten wir, daß es so etwas gibt – aber wir wollten es jetzt, in diesem einen Augenblick, nicht wissen.
Whatever you do –
my heart will still belong to you –
Unsere Herzen fuhren ein Stückchen mit.
Dann stand unser Wagen auf der Fähre. Das Schiff erzitterte leise. Die Lichter an der Küste wurden immer kleiner und kleiner, dann versanken sie in der blauen Nachtluft.
Wir standen an Deck. Die Prinzessin sog den salzigen Atem des[93] Meeres ein. »Daddy – ich bedanke mich auch schön für diesen Sommer!« – »Nein, Alte – ich bedanke mich bei dir!« Sie sah über die dunkle See. »Das Meer . . . « sagte sie leise, »das Meer . . . « Hinter uns lag Schweden, Schweden und ein Sommer.
Später saßen wir im Speisesaal in einer Ecke und aßen und tranken. »Auf den Urlaub, Alte!« – »Auf was noch?«
»Auf Karlchen!« – »Hoch!«
»Auf Billie!« – »Hoch!«
»Auf die Adriani!« – »Nieder!«
»Auf deinen Generalkonsul!« – »Mittelhoch!«
»Das sind alles keine Trinksprüche, Daddy. Weißt du keinen andern? Du weißt einen andern. Na?«
Ich wußte, was sie meinte. »Martje Flor«, sagte ich.
»Martje Flor!«
Das war jene friesische Bauerntochter gewesen, die im Dreißigjährigen Kriege von den Landsknechten an den Tisch gezerrt wurde; sie hatten alles ausgeräubert, den Weinkeller und die Räucherkammer, die Obstbretter und den Wäscheschrank, und der Bauer stand daneben und rang die Hände. Roh hatten sie das Mädchen herbeigeholt – he! da stand sie, trotzig und gar nicht verängstigt. Sie sollte einen Trinkspruch ausbringen! Und warfen dem Bauern eine Flasche an den Kopf und drückten ihr ein volles Glas in die Hand.
Da hob Martje Flor Stimme und Glas, und es wurde ganz still in dem kleinen Zimmer, als sie ihre Worte sagte, und alle Niederdeutschen kennen sie.
»Up dat es uns wohl goh up unsre ohlen Tage –!« sagte sie.
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